Nord-Korea droht der Hungertod

■ Hilfsorganisationen: Ohne Hilfe droht Massensterben. Trockenheit und Flut vernichten Mais- und Reisernten

Berlin (taz) – Ohne eine Ausweitung der internationalen Hilfe sind im Winter Millionen Nordkoreaner vom Hungertod bedroht. Dies erklärte gestern in Bonn eine Sprecherin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) nach einem Besuch des abgeschotteten ostasiatischen Landes. DRK-Sprecherin Susanne Anger sagte, in Nord-Korea spiele sich die größte Hungerkatastrophe der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg ab. Die durchschnittliche Tagesration Reis sei inzwischen auf 100 Gramm pro Person gesunken. Die Menschen streckten die Rationen mit Graswurzeln, Baumrinde und Sägespänen, was schwere Vergiftungen verursache.

Die Hilfsorganisation World Vision hatte am Montag in New York sogar behauptet, daß in Nord-Korea in diesem Jahr bereits eine halbe Million Menschen gestorben seien. In einigen Dörfern lägen Leichen auf der Straße. Während diese Angaben bisher keine andere Hilfsorganisation bestätigte, sind sich internationale Helfer darin einig, daß sich die Lage verschärft hat. So berichtete kürzlich das UN-Kinderhilfswerk Unicef, die Zahl mangelernährter Kinder sei von 15 Prozent im April auf knapp 40 Prozent im August gestiegen. Laut Unicef sind 80.000 Kinder in akuter Lebensgefahr, weitere 800.000 Kinder unter fünf Jahren sind stark unterernährt.

Nach zwei Jahren großer Überschwemmungen wurde das von Mißwirtschaft geprägte Nord-Korea dieses Jahr von extremer Trockenheit heimgesucht. Während es in einem Drittel des Landes drei Monate lang nicht regnete, sorgte im August ein Taifun erneut für große Überschwemmungen. Der Agrarsektor ist aufgrund fehlender Inputs und wachsendem ökologischen Raubbaus ohnehin schwer angeschlagen.

Nach Schätzungen des südkoreanischen Ministeriums für Wiedervereinigung wird die diesjährige Ernte im Norden nur 3,2 der benötigten 5,8 Millionen Tonnen Getreide bringen. Schon 1996 fehlten 2 Millionen Tonnen. Nach UN- Angaben hat die diesjährige Trockenheit 70 Prozent der Maisernte vernichtet. Hilfsorganisationen schätzen, daß Nord-Korea bis zur Ernte im Oktober 800.000 Tonnen Lebensmittelhilfe benötigt. Nach Angaben des UN-Ernährungsprogramms erhielt Nord-Korea dieses Jahr bisher 670.000 Tonnen Hilfsgüter. Das Rote Kreuz schätzt, daß die jüngste Flut weitere 700.000 Tonnen Reis zerstört hat.

Anders als noch im Frühjahr wird die Hungersnot heute von niemandem mehr bezweifelt. Nach Angaben von Hilfsorganisationen hat das diktatorische Regime den Zugang zu den Hungergebieten erleichtert. Frei bewegen können sich die internationalen Helfer allerdings nach wie vor nicht.

Im diplomatischen Poker zwischen Pjöngjang, Seoul und Washington spielt der Hunger eine wichtige Rolle. Nord-Korea macht politische Zugeständnisse von höherer Hilfe abhängig, die von den Geberländern wiederum erst nach Zugeständnissen in Aussicht gestellt wird. Sven Hansen