Eine gottlose Komödie ohne Beatrice

Ein schreibender Untoter auf dem Todesstreifen, apokalyptische Visionen und eine Sturzfahrt durch alle neun Kreise der Hölle: Reinhard Jirgl läßt in seinem Roman „Hundsnächte“ nichts Schreckliches aus und läutet die Totenglocken für die Spaßgesellschaft  ■ Von Peter Walther

Ein Trupp von Bauarbeitern, spezialisiert auf Abbruch, rückt heran, um auf dem einstigen Grenzstreifen zwischen Ost und West, dem Todesstreifen, Ordnung zu schaffen. Die Fremdenlegion, wie die Truppe sich selbst nennt, wird von einem Haufen aufgeregter Dörfler empfangen. In einer der Ruinen, die abgebrochen werden sollen, hielte sich noch ein schwerkranker Bewohner auf, ein ehemaliger Rechtsanwalt. Der Fremde, dessen Tod schon überfällig sei, so die Dörfler, reiße einzelne Tapetenfetzen von der Wand und kritzle darauf unlesbares Zeug. Alle waren schon da, Ärzte, die Fürsorge, doch der Patient sei schon zu schwach für den Abtransport. Die Bauarbeiter müßten, so die Leute aus dem Dorf, mit ihren Abrißarbeiten noch diesen einen Tag warten, dann wäre der namenlose Fremde sicher gestorben, dann könne aus dem einstigen Grenzland voller Altlasten wie geplant ein Radweg werden, ein Lebensstreifen.

Was in Reinhard Jirgls neuem Roman „Hundsnächte“ wie eine Komödie beginnt, gestaltet sich auf den folgenden 500 Seiten zu einer fulminanten Sturzfahrt durch alle neun Kreise der Hölle, hinab zu den Abgründen menschlicher Lüste und Perversionen, ein Leseabenteuer, das für die Marotten einer privaten Orthographie allemal entschädigt. Jirgl ist mit diesem Roman seinem bevorzugten Genre treu geblieben – ein Genre, das er nicht erst seit seinem Romanerfolg „Abschied von den Feinden“ (1995) pflegt. Schon in seinem ersten Buch, dem „Mutter Vater Roman“, das nach vielen Schwierigkeiten und mit großer Verzögerung 1990 noch in der DDR erschien, entwarf der Autor eine apokalyptische Vision, in der Gewalt und sexuelle Begierde als anthropologische Konstanten die einzig geschichtstreibenden Kräfte waren. Viele der programmatischen und kompositorischen Besonderheiten, die in Jirgls neuem Roman eine Rolle spielen, sind bereits in seinen früheren Büchern angelegt: das provokatorisch ausweglose Geschichtsbild, die parabelhafte Überhöhung des knappen Geschehens, das Durchspielen mehrerer Varianten ein und desselben Lebenslaufes wie auch die Verdichtung der erzählten Zeit – im „Mutter Vater Roman“ wie auch in „Hundsnächte“ schließt sich der Rahmen der Erzählung schon nach Ablauf eines Tages.

„Es steckt immer was Hundsgemeines im Leben“, heißt es im Roman. In „Hundsnächte“ malt Jirgl dieses Resümee mit satten Farben und Liebe zum Detail aus. Die Geschichten des ehemaligen Ingenieurs, des einstigen Rechtsanwalts und des Kindes, die im Buch von den Personen selbst erzählt werden, sind in einer Welt der falschen Gefühle, der Kälte und Brutalität angesiedelt. Unnachahmlich beschreibt Jirgl den dumpfen Alltag in der Baukolonne, die Monotonie der Arbeit, den Haß der „Legionäre“ auf alles, was anders ist als sie. So wie der „Neue“, der sich über die „müllkrätzige Musik“ aufregt, die aus dem Recorder des Vorarbeiters klingt, über die „Polizeihundmusik“. Die Figuren in Jirgls Roman sind sämtlich Verlierer. Die Männer, in der Liebe gescheitert, gestehen sich die „Kurzärmlichkeit“ ihrer Gefühle ein und ziehen sich zurück in die Tristesse der „Fremdenlegion“, einer Ruine oder einer Kneipe. Jirgl spielt die Abgründe der Trostlosigkeit, der Leere und des Fremdseins durch, bis hin zur perversen Galerie des „Feisten“, der Figur des Bösen schlechthin, der die Leiche eines harmlosen Gutmenschen, eines „Woodstock-Fossils“ mit Hirschbeutel und Jesuslatschen, und die seiner Ex-Frau drapiert hat: „dort, wo früher ihre hellen Augen blickten, 2 spitze Drillbohrer jetzt aus dem Schädel wie Metallfinger spießend her zu mir, in Höhe meiner eigenen Augen –, die Gesichtshaut, vielmehr die dünne Zinkfolie, zerschnitten, der Mund eine klaffendbreite Wunde“. Zuviel für den Rechtsanwalt, er betäubt sein Alter ego, seinen „Bruder“, mit einem Hammer und kreuzigt ihn auf dem Dielenboden.

Auf einem alten Foto, das im Roman scheinbar beiläufig erwähnt wird, steht mit fast verblichener Schrift der Name „Beatrice“ geschrieben. Aber Jirgls gottlose Komödie kommt ohne Dantes Beatrice aus, hier gibt es nur Huren – schon bei einem zwölfjährigen Mädchen verkommt Sex zur berechnenden Dienstleistung –, seelisch Gestörte und Frauen, die ihren Weg konsequenterweise ohne Männer suchen. Der Autor versteht sich meisterhaft auf die erhellende Übertreibung, auf das Spiel mit Klischees und planvoll überdosierten Widerwärtigkeiten. So auch in der Erinnerung des Kindes an jene Taube, die von einem „schmutziggrün gestrichnen Schwertransporter“ überfahren wurde, allerdings nur zur Hälfte: „Laut klatschend der andere, der unverletzte Flügel, Gefiederflaum stob auf, die Zeit schien steckengeblieben im Schmerz, das Tier konnte nicht sterben – dies Schlagen mit dem Flügel die Bitte ums Aufhören: sie galt !mir.“ Dann, mit zugekniffenen Augen, die vergeblichen Versuche des Jungen, die Taube mit dem Rad zu überfahren, schließlich „spürte ich 1 kleinen, weichen Widerstand am Rad, 1 Anprall, dem sofort nachgegeben wurde – da hörte ich auch 1 kurzen pfeifenden Ton (...), dazu das Geräusch, als würde 1 winzige Nußschale zerbrechen..... Ich fuhr damals rasch weiter, sah nicht noch einmal nach der Taube auf dem Asfalt zurück..... Es hatte dann zu regnen begonnen, Regen aus grauen schweren Wolken.“ Im Laufe des Romans wird deutlich, daß die verschiedenen Figuren – das Kind, der Ingenieur, der Rechtsanwalt – nur jeweils eine Rolle desselben Ichs spielen. Zunehmend verschmelzen sie zum Ich des siechen Schreibers in der Ruine – im schwebenden Zentrum der Geschichte. Der kritzelnde Untote in der Hütte auf dem Todesstreifen, der Schriftgewaltige, hält die Fäden der Erzählung zusammen. Er hat die Macht, Fiktionen erstehen zu lassen, er bestimmt, welche Figuren zum Ich zusammenfließen, und schließlich bestimmt er gar über die Glaubwürdigkeit seiner eigenen Existenz. Für den Abgesang hat sich der Autor einen der Tummelplätze der Freizeitgesellschaft ausgesucht, den Strand. Hier wie andernorts findet unser Held die Masken einer konfektionierten Individualität, die als Statisten der immerwährenden „Laff-Parade“ in debiles Massenzucken verfallen, während hinter der Bühne die Kassen klingeln.

Das Leben – ein Traum, ein Kunstgriff die ganze Existenz? Jirgls Spiel mit den Möglichkeiten des Romans kommt ohne die unglaubwürdige Voraussetzung eines souveränen Subjekts aus. Sein Roman ist ein Spiegelbild der Ratlosigkeit, die die Gesellschaft und den einzelnen angesichts des Wegfalls der großen Geschichtserzählungen ergriffen hat – eine Ratlosigkeit, die jedoch älter ist als die historische Zäsur von 1989. Die Aussicht auf Läuterung und Erlösung, auf Purgatorium und Paradies, hat keinen Platz in der Vision des Autors. Einzig das Schreiben macht den Einsiedler in doppelter Bedeutung des Wortes „unsterblich“ – das gewichtigste von vielen Klischees, die in den Text eingestreut sind und ihn dem Zugriff flinker Interpreten entziehen. Jirgl hat einen atemberaubenden poetischen Entwurf gewagt, er hat das Bild einer Gesellschaft, die im gleichen Maße dümmer wird, wie sie Wissen ansammelt, die einen scheinbar unerschöpflichen Vorrat an Infantilität bereithält, bis zur Kenntlichkeit verzerrt. Ein Buch zum Fürchten, ein Buch zum Lesen.

Reinhard Jirgl: „Hundsnächte“. Roman. Hanser Verlag, München, Wien 1997, 528 Seiten, 49,80 DM