„Der braucht jemanden, der ihm zuhört“

■ Mehr Betreuung als Pflege: „Solidarische Hilfe im Alter“für Opfer des Nazi-Regimes

Ein unscheinbares Haus in der Lindenallee 54, ein kleines Schild am Eingang: „Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes“. „Durch das Tor, dann nach hinten runter“, wird telefonisch der Weg in die winzigen Räumlichkeiten der „Solidarischen Hilfe im Alter“gewiesen. Dort, halb im Keller, wird der kleine ambulante Pflegedienst koordiniert. Seit Februar 1996 betreut er in Hamburg Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, deren Angehörige und Freunde.

„Wir wurden immer wieder gefragt, wie es ,den Alten' geht“, erinnert sich Traute Springer-Yakar, „und ob es tatsächlich keine speziellen Betreuungsangebote für Nazi-Opfer gebe“. Die 54jährige Sozialarbeiterin, Mitglied der „Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes“, wurde aktiv. „Was 50 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus nicht existierte“, resümierte sie, „war auch nicht mehr zu erwarten. Also machten wir uns selbst an die Arbeit.“Zusammen mit einer Ärztin, einem Psychologen und einer Pädagogin, die bereits seit Jahren in der Lindenallee eine Sozialberatung für die Projektgruppe anbietet, gründete Springer-Yakar die „Solidarische Hilfe“.

Die muß – wegen der speziellen Geschichte der Betroffenen – weit über das reguläre Betreuungsangebot hinausgehen. Die Pflegeversicherung sei nur dazu da, „damit die Leute sauber und nicht hungrig in ihrer Wohnung sitzen“, kritisiert die Ärztin Katja Gundelach. „Mehr ist nicht drin.“Die darüber hinausgehenden Bedürfnisse zu befriedigen hat sich das ehrgeizige Projekt aber zum Ziel gesetzt – bisher hauptsächlich durch ehrenamtliche Arbeit. „Wenn jemand, wie es einem von unseren Klienten passiert ist, viermal zur Hinrichtung geführt wurde, dann kommen die Sachen immer wieder hoch“, sagt Gundelach. „Der braucht nicht nur Hilfe beim Anziehen, der braucht jemanden, der ihm zuhört.“

Dazu kommen praktische Hürden. Viele der ehemaligen Verfolgten hätten panische Angst vor Institutionen. „Die meisten haben mit uns zusammen überhaupt erst einen Antrag auf finanzielle Unterstützung gestellt,“berichtet Traute Springer-Yakar. 30 Menschen werden derzeit von der „Solidarischen Hilfe im Alter“betreut, und „manche schämen sich noch heute dafür, im Lager gesessen zu haben“, ergänzt Katja Gundelach. „Wer hier arbeitet, muß sich schon intensiv mit Faschismus und Rassismus beschäftigt haben.“

Überhaupt machen hier die 18 Beschäftigten, soweit es das Gesetz erlaubt, alle alles. Ob es sich um eine AkademikerIn, eine der ausgebildeten PflegerInnen oder um ungelernte 610-Mark-Kräfte handelt. „Haushaltspflege, Putzen, jemanden waschen und Blutdruck messen kann schließlich jeder“, bekräftigt die Ärztin.

Um die spezielle individuelle Betreuung auch mal bezahlen zu können, wurde jetzt ein gemeinnütziger „Psychosozialer Verein für Verfolgte“gegründet. Fördermittel und Spenden sollen finanzieren, was über Kranken- und Pflegeversicherung oder Sozialamt nicht gedeckt ist: psychosoziale Betreuung, ein Gespräch, und „schließlich haben alle auch das Recht, mal spazieren zu gehen, oder Lust aufs Theater“. Ralf Streck