Schriften zu Zeitschriften
: Heilige Zahlen

■ Hans Henny Jahnn als Bauer und Orgelbauer: Ein neues Heft der „Spuren“

Zeitlebens hatte Hans Henny Jahnn seine Umwelt mit Extravaganzen in Atem gehalten. Neben der Schriftstellerei unterhielt er einen Bauernhof mit Pferdezucht, und von Freunden erbat er sich Urinproben für seine Hormonforschungen. Ehe er das Zeitliche segnete, traf er Vorsorge, in einem zentnerschweren Schrein begraben zu werden. Beim Transport des Sarges brachte ein gehschwacher Dichterkollege den Troß gefährlich zum Schwanken, so daß die Trauergäste sich fest auf die Lippen beißen mußten, um nicht loszuprusten.

Daß Jahnn alles andere als ein Luftikus war, kann man im letzten Heft der Marbacher „Spuren“ nachlesen, in dem Roswitha Schieb der Beziehung Jahnns zu dem Ludwigsburger Orgelbauer Oscar Walcker nachgeht. Jahnn war noch nicht einmal 26 Jahre alt, als er 1920 einen der angesehensten deutschen Literaturpreise erhielt, den Kleist-Preis. Zur selben Zeit galt seine Leidenschaft neben der Literatur vor allem dem Bau und der Restaurierung von Orgeln. In Norwegen, wohin Jahnn und sein Schulfreund Gottlieb Friedrich Harms sich geflüchtet hatten, um dem Ersten Weltkrieg zu entgehen, hatte er sich theoretisch mit Fragen des Orgelbaus beschäftigt und – nach Hamburg zurückgekehrt – die „trostlos abgetakelte“ Orgel in der Jacobi-Kirche restauriert. Jahnn gelang es mit der Zeit, seinen Lebensunterhalt durch den Orgelbau und als amtlicher Orgelsachverständiger der Stadt Hamburg zu bestreiten.

In dieser Eigenschaft stößt er 1926 auf einer Tagung zur deutschen Orgelkunst mit dem Besitzer des traditionsreichen Ludwigsburger Orgelunternehmens „E. F. Walcker“ zusammen. Aus der Konfrontation von einst entwickelt sich eine über zwanzig Jahre währende Verbindung, die von gegenseitigem Respekt und gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen getragen war.

Roswitha Schieb rekonstruiert diese Beziehung anhand von Briefzeugnissen, Fundstücken aus dem Archiv und seltener Literatur: Am Anfang stand der Streit um Zahlen. Hatte Jahnn die Berechnung der Pfeifenmensuren auf die Proportionslehre der „heiligen Zahlen Drei, Fünf und Sieben“ zurückgeführt und die physikalische Reinheit als Grundlage allen Orgelbaus gefordert, hielt der 25 Jahre ältere Walcker ihm die „heiligen Zahlen der Geschäftsbücher“ entgegen – auch eine schlichte Kino-Orgel hätte ihre Berechtigung.

Walcker war alles andere als ein gewissenloser Geschäftemacher auf Kosten der Qualität. Er hatte 1921 jene Freiburger Orgel gebaut, die zum Ausgangspunkt für eine musikalische Erneuerungsbewegung in den zwanziger Jahren wurde. Zu den Protagonisten dieser Orgel- Erneuerungsbewegung gehörte auch Hans Henny Jahnn. Die Zusammenarbeit beider gipfelte im Bau der „Kammerorgel Walcker-Jahnn“, die man auf einem Nachdruck des Originalprospekts bewundern kann. Niemand anders als Oskar Loerke, damals Sekretär der Sektion für Dichtkunst in der preußischen Akademie der Künste, wurde von Jahnn dazu eingespannt, Werbung für das Gemeinschaftswerk zu machen.

Das Dritte Reich überstand der Dichter weitgehend unbehelligt auf der dänischen Insel Bornholm. Versuche, wirtschaftlich in Deutschland Fuß zu fassen, scheiterten an der Ablehnung durch die Nazistellen. Ein Glück für die Literatur, denn aus Mangel an anderer Gelegenheit richtete Jahnn sein Genie auf die Romantrilogie „Fluß ohne Ufer“. Für Jahnn war der Orgelbau mehr als ein Handwerk. Er war fasziniert vom „metaphysischen Realismus der Orgel“, angetrieben von dem Interesse, die Ordnungsprinzipien der Natur zu ergründen. Die Orgelkunst sei eine „Angelegenheit, die ganz einem menschlichen Erlebnis der Verschwendung zugewiesen werden muß“, schrieb er 1926.

Verschwenderisch ist auch die Ausstattung des „Spuren“- Heftes: Bedruckter Pergamin- Umschlag, zahlreiche Abbildungen und als Beilage der erwähnte Prospekt. Betreut wird die Heftreihe von Thomas Scheuffelen in der Arbeitsstelle für literarische Museen am Deutschen Literaturarchiv. Ob die Spurensuche nach Fellbach zu Mörike geht oder den Brüdern Karl und Robert Walser nach Stuttgart folgt, immer sind es biographische Episoden und Affären der Literaturgeschichte, die im Mittelpunkt jeden Heftes stehen.

Vierzig Ausgaben der „Spuren“ sind im Laufe der Jahre in unregelmäßigen Abständen erschienen. Keine zehn Mark kostet das jüngste Heft. Ein Preis- Leistungs-Verhältnis, das an „metaphysischen Realismus“ grenzt. Peter Walther

„Spuren“, Heft 40, 16 Seiten, 16 Illustrationen, mit einer Beilage, Preis im Buchhandel 9,80 DM, im Deutschen Literatur Archiv Marbach 7 DM