Alles obenauf im Untergrund

Ist über das Leben spätdadaistischer Gartenzwerge wirklich schon alles gesagt? Zwei neue Bücher zeichnen ein differenziertes Bild von der Literaturszene am Prenzlauer Berg. Was vom Berge übrigblieb: Wer weiterschreibt, lebt ohne Szenezugehörigkeit besser  ■ Von Peter Walther

Die Literaturszene am Prenzlauer Berg, ist das nicht Schnee von gestern? Hat nicht Biermann alles gesagt, was zu sagen ist über „Sascha Arschloch“ und die „spätdadaistischen Gartenzwerge“? Daß in dieser Sache längst noch nicht das letzte Wort gesprochen ist, belegen zwei Neuerscheinungen zum Thema. „Papierboot“ heißt das Buch von Birgit Dahlke, in dem sie – ausgehend von der augenscheinlichen Unterrepräsentanz der Frauen in den inoffiziell verlegten Zeitschriften – der Frage nachgeht, welche Rolle die Autorinnen in der literarischen Subkultur der DDR spielten.

Das ist kein rühmliches Kapitel für die Männer. Neben der Arroganz der männlichen Szeneprotagonisten gegenüber der Literatur, die von gleichaltrigen Frauen geschrieben wurde („Frauen können nun mal keine Gedichte schreiben“, hatte Papenfuß-Gorek mit Lust an der Provokation in die Zeitschriftendebatte geworfen), gab es Autoren wie Matthias Holst, die lyrisches Kapital aus ihren feuchten Phantasien geschlagen haben („reich mir deine wunde verstrapste auf daß ich die floskel dir kämme einen sommer lang!“).

Birgit Dahlke geht es um die Frage, ob sich eine geschlechtsspezifische Perspektive in der Literatur der Frauen ausmachen läßt und worin diese bestehen könnte. Sie konzentriert ihr Interesse dabei auf acht ausgewählte Autorinnen – von Katja Lange-Müller (Jahrgang 1951) bis Annett Gröschner (Jahrgang 1964). Als Vorspann läßt sie die Tradition von Literatur passieren, die in der DDR von Frauen geschrieben wurde – Brigitte Reimann, Christa Wolf, Irmtraud Morgner. An diesen – quasi offiziellen – Strang der Tradition knüpft jedoch kaum eine der jüngeren Autorinnen an. Dagegen wurde eine Autorin wie Elke Erb für die meisten Autorinnen am Prenzlauer Berg wichtig – nicht als Mittlerin zwischen den Generationen, sondern als Repräsentantin eines eigenen Schreib- und Lebensstils. Wie viele der von Birgit Dahlke ins Visier genommenen Frauen lehnt jedoch auch Elke Erb die Zuschreibung einer feministischen Perspektive im Hinblick auf ihre Texte ab.

Eine unideologische Denkhaltung

Die Besonderheiten eines weiblichen Schreibens werden hingegen nicht geleugnet. Birgit Dahlke zählt neben der Häufung bestimmter Metaphern, der Sonderrolle von Körpererfahrungen und dem Vorherrschen nicht-ironischer Schreibweisen allerdings auch einige Haltungen dazu, die sich bei den männlichen Kollegen gleichermaßen finden lassen.

Im Anhang des Buchs sind Gespräche abgedruckt, die Dahlke mit einigen Autorinnen geführt hat. In ihnen wird deutlich, daß es weder theoretische Unbedarftheit noch mangelndes Bewußtsein über die eigene Lage ist, die die weitgehende Ablehnung feministischer Interpretationsmuster durch die Frauen selbst begründet. Feminismus wird – so eine häufig verbreitete Haltung unter den Autorinnen – nicht als Chance für das tiefere Verständnis der eigenen Situation, sondern vielmehr als Gefahr gesehen, die eigene Identität auf die Geschlechtlichkeit zu reduzieren.

Die Meinung etwa von Kerstin Hensel ließe sich auf die Formel bringen: Es gibt nur gute und schlechte Literatur. Für Dahlke ist die Kategorie „weibliches Schreiben“ ein methodisches Instrument, mit dessen Hilfe „das Potential der analysierten Texte“ entfaltet werden kann – eine sympathisch unideologische Denkhaltung.

Der Autor des anderen Buches, Peter Böthig, hat bei Durchsicht seiner Stasi-Akte von 1986 neben der Bemerkung „promoviert in drei Jahren“ den handschriftlichen Vermerk „Verhindern!“ entziffert. Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß dieser Vermerk als Fußnote Eingang in die Dissertation Böthigs gefunden hat, die dem vorliegenden Band als Textgrundlage diente. Die Literatur aus der DDR in den 80er Jahren kennt der Autor zum Teil aus erster Hand – er gehörte zur Literaturszene am Prenzlauer Berg. Böthig hat einige ästhetische Grundpositionen dieser Szene und den literarischen Hintergrund skizziert, vor dem sie entstanden sind. In Vergleichen mit der Literatur der älteren Kollegen, etwa mit Texten von Christa Wolf, Sarah Kirsch und Heiner Müller, arbeitet Böthig heraus, wie die sinnstiftende Rolle des Subjekts als Organisationszentrum des Textes bei den jüngeren Autoren nicht nur angezweifelt, sondern ganz verworfen wurde. Damit war der Ausgangspunkt für eine kritische Behandlung des Sprachmaterials geschaffen, für den Impuls, die Literatur vom Anspruch sozialer Wirksamkeit zu befreien.

„Der Abscheu vor pädagogischen, protestierenden und petitionären Kunstkonzepten basierte auf der geschichtlichen Erfahrung der Chancenlosigkeit von ,Fürstenerziehung‘“, schreibt Böthig.

Die 80er Jahre, das Jahrzehnt von Poststrukturalismus und Postmoderne, hielten viele schillernde Theorien bereit, die den zunehmend empfundenen Verlust geschichtlicher Perspektiven zu fassen versuchten. Die Autoren haben diese Theorieerfahrungen in ihrer Literatur sehr unterschiedlich verarbeitet.

Die Szene, eine Simulation der Stasi?

Während ein Autor wie Jan Faktor die Literatur „als Ort einer zweifelhaften Sinnproduktion [...] in Frage“ stellt und möglichst ästhetische Konsequenzen in seinen Texten durchspielt, entwirft Rainer Schedlinski wortreich ein Theoriegebäude, hinter dessen Fassade der schnöde Verrat stattfindet. Die Details kann man im Anhang des Buchs nachlesen, in dem zahlreiche Dokumente, Spitzelberichte, Interviews und Briefe abgedruckt sind. Der Vorwurf, die ganze Literaturszene sei eine Simulation der Stasi gewesen, ist freilich nicht mehr als eine schicke Pointe, die an der Vielschichtigkeit des literarischen Betriebs am Prenzlauer Berg vorbeizielt. Weder Jan Faktor noch Autoren wie Ulrich Zieger, Durs Grünbein und Johannes Jansen, deren Poetologien Böthig in seinem Buch vorstellt, haben sich distanzlos zu den Selbstinszenierungen der Szene verhalten. Und auch die Mentoren, die Förderer und Geldgeber unterschiedlichster Couleur, von Erich Arendt über Adolf Endler, Christa und Gerhard Wolf, Heiner Müller und Volker Braun, waren schließlich alles andere als Stasi-Offiziere. Am Ende stellt der Autor die Frage, was von dem, das die Dichter am Prenzlauer Berg gestiftet haben, bleiben wird. „Nicht die Literatur“, schreibt Böthig, „sondern die kulturelle Identität des ,Prenzlauer Bergs‘ ist eingestürzt. [...] Die Autoren, die weiterarbeiten, werden es ohne die Zuschreibungen einer ,Szene‘ freier und gelassener tun können als zuvor.“

Birgit Dahlke: „Papierboot. Autorinnen aus der DDR – inoffiziell publiziert“. Königshausen & Neumann, Würzburg 1997, 360 Seiten, 68DM

Peter Böthig: „Grammatik einer Landschaft. Literatur aus der DDR in den 80er Jahren“. Lukas Verlag, Berlin 1997, 298 Seiten, 48DM