Ein halbes Jahr nach dem Oder-Hochwasser leiden die Einwohner Breslaus immer noch unter dessen Folgen. Mit Spenden, zu denen auch die taz aufgerufen hat, unterstützen Jugendliche dort Menschen, die von der Bürokratie übergangen wurden. Von Andrea Böhm

Helfen ist mehr als Spenden verteilen

Was für ein Leben muß das sein, wenn man sich an seinem Geburtstag an der deutsch-polnischen Grenze erst die Beine in den Bauch steht und dann erfährt, daß man gebrauchte Schuhe nicht nach Polen einführen darf. Jedenfalls behauptete das der polnische Zöllner. „Die Angst vor ausländischem Fußpilz“, dachte sich Leszek Dudzic. Zu Hause, in Breslau, warteten die Leute sehnlichst auf Schuhe — egal, wessen Füße bereits darin geschwitzt hatten. Ihre eigenen hatten sich in ihre Bestandteile aufgelöst oder Schimmel angesetzt.

Der Zöllner hatte schließlich ein Einsehen und ließ den Lkw mit sieben Tonnen Hilfsgütern samt gebrauchtem Schuhzeug passieren — vorausgesetzt, das Breslauer Gesundheitsamt würde die Fracht innerhalb der nächsten 48 Stunden auf Fußpilz und andere Krankheitserreger überprüfen. Sogar die 1.000 Mark Einfuhrzoll ließen sich nach mehrstündigen Verhandlungen „wegdeklarieren“. In den späten Nachtstunden rollte der Transport endlich in Breslau ein. Sieben Tonnen mußten umgehend ausgeladen werden, damit der deutsche Fuhrunternehmer am nächsten Tag seinen gratis ausgeliehenen Laster samt Fahrer wieder zurückbekommen konnte.

Das war am 23. September — gut zehn Wochen, nachdem das Hochwasser weite Teile Polens überflutet und einen Schleier aus Modergeruch und braunem Sediment hinterlassen hatte. Leszek Dudzic, Mitarbeiter der Breslauer Jugendbegegnungsstätte des polnischen Hochschulsportverbandes (AZS), hatte seine ersten Erfahrungen mit der Durchführung eines Hilfstransports — und nebenbei seinen 40. Geburtstag zu einem Ereignis von bleibender Erinnerung gemacht. Vom Spendenaufruf, wie er im August 1997 von der taz, dem Polnischen Sozialrat, den Bündnisgrünen und der BUNDjugend in Berlin mitgetragen wurde, bis zur Verteilung von Geld und Gütern lernt man einiges über Menschen und Bürokratie.

Inzwischen ist die Jahrhundertflut ein halbes Jahr her — und in Breslau kämpfen die Bewohner immer noch mit der Verwüstung, die sie angerichtet hat. In armen Stadtteilen wie Kozanow im Nordwesten, einem unmittelbar an der Oder hochgezogenen Hochhausviertel, oder Kowale, einer Gartenhaussiedlung am nordöstlichen Kanalufer Breslaus, türmen sich immer noch Berge aus zerstörtem Mobiliar. In zahlreichen Häusern fehlt der Strom. In manchen Kellern steht immer noch Wasser. In den Häusern wuchert der Schimmel, während ihre Bewohner auf die versprochenen Ersatzunterkünfte warten. „Wenn sie denn kommen“, sagt Dudzic, „dann entpuppen sie sich oft als Container, nur mit Styropor isoliert und nur mit Strom beheizbar.“ Eine solch hohe Stromrechnung kann kaum jemand bezahlen, aber meist hat eh niemand die Elektrik gelegt. Aber auch die in erstaunlicher Geschwindigkeit neu gebauten Häuser halten nicht, was die Bauunternehmen versprochen hatten. Sie sind so feucht, daß auch in ihnen schon wieder Pfützen stehen.

Andernorts läuft der Wiederaufbau besser: Die Jugendbegegnungsstätte des AZS, deren Mitarbeiter bei der Flutkatastrophe im Juli mit Hubschraubern vom Dach gerettet werden mußten, ist mit Versicherungsgeldern, Spenden und staatlichen Mitteln von Grund auf renoviert und für deutsch-polnische Jugendprojekte wieder geöffnet worden. Und der Großteil der über 130.000 Mark, die seit August auf dem Konto des Polnischen Sozialrats in Berlin eingegangen sind, wurde direkt an Familien und Einzelpersonen weitergegeben. Gemessen an den 300 Millionen Mark, die die Breslauer Stadtverwaltung zur Instandsetzung von Dämmen, Kanalisation, Straßenbahnschienen, Bürgersteigen oder Wohnungsbau veranschlagt, ist das nicht viel — doch bestechend ist die höchst unkonventionelle Weise der Verteilung: Nicht der Staat, nicht die Stadt oder Wohlfahrtsverbände geben Geld und Hilfsgüter an Bedürftige, sondern Breslauer Jugendliche.

Rund 15 SchülerInnen und StudentInnen, die während eines deutsch-polnischen Sommercamps im Riesengebirge unter der Leitung von Dudzic und Witold Kaminski vom Polnischen Sozialrat über Fernsehen und Radio von der Überflutung ihrer Stadt erfahren hatten und in eine bizarre urbane Seelandschaft heimgekehrt waren, zogen, ausgestattet mit „Hochwasserkarten“ und Namenslisten, in die Breslauer Armenviertel. Nach Kozanov und nach Kowale. Agnieszka, eine 21jährige Germanistikstudentin; Carolina, eine 16jährige Gymnasiastin, deren Wohnung unter Wasser stand; Rafal, 20 Jahre alt, arbeitslos und ungeübt in der Kunst, von Haus zu Haus, von Notunterkunft zu Notunterkunft zu gehen, und zu fragen: „Brauchen Sie Hilfe?“ Zumal die Angesprochenen von einem jungen Mann erst einmal nicht annehmen, daß er Geld zu verteilen hat, sondern daß er welches klauen will.

Mit Fahrrädern waren sie in kleinen Teams ausgeschwärmt, weil keine Busse oder Trambahnen fuhren, überprüften anhand ihrer „Hochwasserkarten“, wer bereits welche staatliche Hilfe bekommen hatte — und versuchten, einige der Löcher zu stopfen, die Bürokraten nunmal hinterlassen. Gerade einmal 3.000 Zloty (rund 1.500 Mark) stand jedem Flutopfer von staatlicher Seite zu, privat versichert waren die wenigsten. Pech hatte die Familie, deren neubezogenes Haus zwar vom Wasser verwüstet worden war, die zum Zeitpunkt der Flut aber noch an ihrem alten Wohnort gemeldet war, der vom Hochwasser verschont blieb. Ein wenig besser erging es der Mutter mit drei Kindern im Alter von zwei bis neun Jahren, die immerhin eine Wohnung zugeteilt bekam — aber ohne Möbel, Kücheneinrichtung und Wasserhähne. Pech wiederum hatten all jene, die ihre Paterrewohnungen renovierten, obwohl Keller und Grundmauern noch nicht trocken waren.

„Wir haben“, sagt Agnieszka, „immer mit einem Grundbetrag von 1.000 Mark begonnen — und dann geprüft, wer noch mehr braucht. Nach ein, zwei Wochen sind wir wieder hingegangen, um zu sehen, was mit dem Geld gemacht worden ist.“

Beim Verteilen von Hilfsgütern und Spenden lernt man, wie gesagt, einiges über Bürokratien und Menschen — Spender wie Empfänger. Was macht man zum Beispiel mit liebevoll verschnürten Päckchen aus Deutschland, die verderbliche Lebensmittel und haltbaren Billigschmuck enthalten? Wie bringt man die benötigten Schuhe unter die Leute? Wie entscheiden, wenn Nachbarn sich gegenseitig der Raffgier beschuldigen? Oder einem an der Tür bereits die Wodkafahne entgegenschlägt? „Umdrehen und gehen“, sagt Agnieszka. Was tun, wenn einen Frauen und Männer vor lauter Dankbarkeit mit Tränen und mit Obst aus ihren kleinen Gärten überschütten, obwohl der Boden seit dem Hochwasser mit Heizöl und Chemikalien verseucht ist? „Mitnehmen, sich bedanken und danach wegwerfen.“

Im Oktober bekamen die Jugendlichen Verstärkung aus Friedrichshain, einem Stadtteil im Osten von Berlin. Neun junge Leute, darunter Arbeitslose, Schüler und Azubis, rückten mit Baumaterial an und machten zusammen mit ihren polnischen Altersgenossen Häuser in Kowale winterfest: Holz hacken, Betonfußböden abtragen und den feuchten Untergrund auswechseln, fliesen, kacheln und die Elektrik legen. Gemeinsam mit dem Breslauer Ehepaar, das die vergangenen sechs Monate mit Kerzen und Taschenlampen zugebracht hatte, hielt man die Luft an, als Elektrikerlehrling Sascha nach getaner Arbeit auf den Schalter drückte. Und siehe da — es wurde Licht, und es gab Sekt.

Die Friedrichshainer suchen inzwischen nach weiteren Geldquellen, um bei einer zweiten Reise im Frühjahr weitere Häuser in Breslau zu renovieren. Die Breslauer haben ihre Aktivitäten inzwischen auf die Häuserblocks rund um das „Bermuda Dreieck“ verlegt, einem berüchtigten Elendsviertel der Stadt. Dort versorgen sie SchülerInnen aus „sozial ganz schwachen Familien“, wie Agniezska sagt, mit Büchern und Kleidung — bezahlt mit den letzten Spendenraten aus Deutschland. Gibt es Hinweise darauf, daß Eltern das Geld in alkoholische Flüssignahrung umsetzen, dann gehen die Helfer selbst mit den Kindern einkaufen. Zu laut möchte er es ja nicht sagen, aber „es ist schon erstaunlich“, meint Leszek Dudzic, „wie viele Impulse so eine Katastrophe geben kann.“ Man lernt eben bei Hilfsaktionen — nicht nur die Zollrichtlinien für die Einfuhr von gebrauchten Schuhen. Vom Gesundheitsamt ist übrigens nie jemand vorbeigekommen.