Die Neue Selbständigkeit

Immer mehr Arbeitslose verschwinden aus der Statistik, weil sie sich selbständig machen. Doch viele der jungen Unternehmen müssen scheitern  ■ Von Jeannette Goddar

Matthias hat Maschinenbau studiert und sich anschließend selbständig gemacht. In irgendeinem großen Konzern seinem nächsten Urlaub entgegenfiebern will er nicht, und Aufträge gebe es massenhaft. „Die Firmen haben doch längst ihre Entwicklungsabteilungen ausgelagert“, erzählt er, „das machen doch jetzt wir Freien.“ Charlotte hatte nach ihrer Ausbildung als Krankenschwester keine Lust mehr auf ihren Beruf und hat einen Bioladen aufgemacht.

„Unabhängigkeit“, sagt sie, „ist mir wichtiger als ein regelmäßiges Einkommen. Und die Arbeitsbedingungen werden doch auch immer mieser.“ Existenzgründung heißt das Zauberwort, das angesichts der desolaten Arbeitmarktlage alle Welt im Munde führt. Darlehens- und Existenzgründerprogramme aus EU-, Bundes- oder Landeskassen unterstützen den Weg in die Unabhängigkeit.

Existenzgründungen sind zu einem arbeitsmarktpolitischen Instrument geworden: Wer sich als Arbeitsloser selbständig macht, bekommt ein Jahr lang Überbrückungsgeld vom Arbeitsamt. Und in Berlin ist eine Gruppe innovativer Jugendberater schon dabei, ein Konzept zu entwickeln, das Jugendlichen den Weg in die Selbständigkeit erleichtern soll. Wenn es weder Lehrstellen noch Jobs gebe, müsse man ihnen halt ermöglichen, ihren eigenen Betrieb aufzumachen. Sein eigener Chef zu sein fördere außerdem Motivation und Selbstwertgefühl.

Jeder zehnte Westdeutsche sowie jeder vierzehnte Ostdeutsche arbeitet laut dem Mikrozensus 1995 selbständig – das sind allerdings immer noch deutlich weniger als in anderen Industriestaaten. Doch die Tendenz ist steigend: 1,9 Millionen Menschen machten sich zwischen 1990 und 1995 selbständig, darunter drei Viertel West- und ein Drittel Ostdeutsche. Der durchschnittliche „neue Selbständige“ ist 36 und männlich. Fast ein Fünftel hat einen Hochschulabschluß. Mehr als die Hälfte waren vor der Selbständigkeit erwerbstätig, jeder zehnte arbeitslos.

Diese Zahlen geben den Hintergrund des Gründerwillens jedoch nur unvollständig wieder. Jeder Dritte, hat das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) herausgefunden, meint, daß er „ganz sicher“ oder „wahrscheinlich“ seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Dies deute darauf hin, „daß Selbständigkeit vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit [...] eine wichtige Alternative [...] ist.“ Aber nicht unbedingt eine dauerhafte: Nur 65 von hundert überstehen die ersten drei Jahre, die Verschuldung ist oft enorm. Viele der Existenzgründer gehen ganz und gar nicht freiwillig das teure Risiko ein. „Die Selbständigkeit ist öfter der letzte Strohhalm als die Erfüllung eines großen Traumes“, erzählt Ute Skrzeckek, Leiterin der Berliner Existenzgründerinnenberatung Akelei. Zu ihr kommen die unterschiedlichsten Frauen: die arbeitslose Pädagogin, die eine Boutique aufmachen will, aber auch die Grafikerin, die sich mit einem eigenen Büro versuchen möchte. Daß viele sich Nischen suchen, für die sie überqualifiziert sind, will Skrzeckek nicht unterschreiben. „Etwas Eigenes aufzubauen ist alles andere als leicht.“

Sie erlebt aber auch ein anderes Problem hautnah: „Outsourcing“, die Auslagerung immer größerer Unternehmensbereiche. „Früher haben sich Unternehmen Psychologen geleistet, Architekten, eine Werbeabteilung. Heute machen das freie Mitarbeiter.“ Zahlreiche Frauen seien gekündigt worden mit der Option, ihre Arbeit als Selbständige weiterzuführen.

Viele dieser freien Mitarbeiter sind dadurch sogenannte Scheinselbständige: Sie müssen sich selbst versichern, sind kaum geschützt, treten aber nicht am Markt auf, sondern sind angewiesen auf „ihren“ Auftraggeber. Das klassische Beispiel: Der Fahrer des Deutschen Paketdienstes, der mit einem Auto, das er dem DPD abgekauft hat, durch die Gegend fährt. Das Beispiel ist übertragbar auf Hundertschaften von Altenpflegern, Lkw-Fahrern, Buchhaltern und Fliesenlegern.

„Der Profit ersetzt das Unternehmerrisiko“, kommentiert ein DIW-Mitarbeiter zynisch. Laut einer Untersuchung des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) arbeiteten 1996 938.000 Bundesbürger hauptberuflich in einer „Grauzone zwischen abhängiger und selbständiger Beschäftigung“. Bei einer genaueren Analyse kam das IAB zu dem Schluß, das zwischen 30 und 45 Prozent im engeren Sinne „abhängig Beschäftigte“ sind, die keinerlei Arbeitnehmerschutzrechte in Anspruch nehmen können.

An diesem Punkt setzt auch die Kritik der Gewerkschaften an. „Selbständigkeit klingt ja gut, aber wenn der Schein dazukommt, läßt der Klang nach“, so Petra Meyer vom Berliner DGB. Der DGB fordert deshalb – wie auch die SPD –, endlich ein Gesetz zu verabschieden, das anhand eines eindeutigen Kriterienkatalogs den Arbeitnehmerbegriff definiert. Die Sozialversicherungen gehen davon aus, daß ihnen durch „sozialschädliche Beschäftigungsverhältnisse“ jährlich zehn Milliarden Mark durch die Lappen gehen. Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht – angesichts von bald fünf Millionen Arbeitslosen, die nach so ziemlich jedem Rettungsanker greifen.