Das Politische? Kein Ort. Nirgends.

Der Politikwissenschaftler Jürgen Seifert klagt: Parteien und NGOs werden wie Konzerne geführt. Nur die Darstellung nach außen zählt. Die innere Demokratie bleibt auf der Strecke  ■ Von Danyel Reiche und Carsten Krebs

Gründe für das gegenwärtige Versagen von Politik zu benennen und Chancen für demokratische Interventionen auszuloten, das hat sich der Jurist und Politikwissenschaftler Jürgen Seifert in seinem neuen Buch „Politik zwischen Destruktion und Gestaltung – Studien zur Veränderung von Politik“ auf die Fahnen geschrieben. Seifert, langjähriger Bundesvorsitzender der Humanistischen Union und seit kurzem auf Vorschlag der Bündnisgrünen Mitglied der für die Kontrolle staatlicher Abhörmaßnahmen zuständigen G10- Kommission im Deutschen Bundestag, beschreibt in 14 – zwischen 1985 und 1996 entstandenen – Aufsätzen die veränderten Koordinaten von Politik.

Wesentliche Probleme liegen gegenwärtig außerhalb des Nationalstaates: Weltmarkt und ökonomische Krisen sind international, das gleiche gilt für ökologische Gefährdungen und den militärischen Einsatz von Massenvernichtungsmitteln. Im Gegensatz dazu ist der Nationalstaat im wesentlichen noch der Raum von Politik. Doch berauben sich politische Parteien, so die These von Seifert, ihrer durchaus vorhandenen Interventionsmöglichkeiten, weil sie die Bodenhaftung verlieren. Er meint damit einen Prozeß der „Amerikanisierung“, der „inhaltlich die Unterordnung einer Mitgliederorganisation unter durch Medien erfolgte Vermarktung bedeutet“.

Politik werde mit der Plazierung in Medien identisch. Dies habe ein Übergewicht der Führungspersonen und eine Ausschaltung der innerparteilichen Demokratie zur Folge. Die Interessen der Basis kämen immer weniger zum Zuge. Als Mitglieder seien vielmehr nur noch diejenigen erwünscht, die ihren politischen Stars zujubeln oder um Vertrauen für die Führung werben. Dadurch werde der öffentliche Raum zur Diskussion des Politischen in den Parteien eingeengt.

Wie ist dieser Vermarktungsprozeß zu erklären? Angesichts der gegenwärtigen Vorherrschaft des Wirtschaftsliberalismus konstatiert Seifert, daß „jede Sache schwanger gehe mit ihrem Gegenteil“. Davon seien neben Parteien auch Bürgerrechtsorganisationen erfaßt. Immer häufiger reduziere sich ihre Politik darauf, durch Anzeigenkampagnen Geld für einen guten Zweck oder eine spezifische Aktion zu sammeln. Stellvertretend für diese Entwicklung sei die Umweltschutzorganisation Greenpeace, die die Spitze eines professionell geführten, auf Medienwirkung ausgerichteten Quasikonzerns sei, der Mitglieder nur kooptiert und ansonsten nur Förderer kennt. Transnationalität, spezifische, auf das Prinzip „Öffentlichkeit durch Regelverletzungen“ beruhende Aktionsformen und eine besondere Professionalität überdeckten hierarchische und kapitalabhängige Strukturen. Noch sei nicht ausgemacht, resümiert Seifert, ob solche Tendenzen vorherrschend würden.

Greenpeace ist für Seifert auch Beispiel dafür, wie eigene Interessen heutzutage über Medienkampagnen mit Feindbildern wahrgenommen würden. Mehr und mehr gelte der Grundsatz: „Nur wer in Medien Gehör findet, ist politisch existent.“ Seifert zeigt auf, wie Feindbilder jede Zwischenposition verhindern, sei es im Fall Greenpeace/Shell oder bei der Kampagne gegen die sogenannten Sympathisanten der RAF und den Vorwurf, sie schützten den harten Kern der Gewalttätigen. Solche Kampagnen mit Feindbildern, schreibt Seifert, „übertragen die im Rahmen von Kriegspropaganda, psychologischer Kriegführung und totalitärer Propaganda entwickelten Methoden auf Wahlkämpfe und das Bekämpfen des innenpolitischen Gegners“.

Wie kann der von Seifert beschriebene Prozeß, der Parteien- und Politikverdrossenheit produziert, überwunden werden? Aktionen der Friedens- und Ökologiebewegung hätten bereits gezeigt, daß durchaus Grenzen zu überwinden sind. Es fehlten aber die Orte, an denen frei und gleichberechtigt über Politik, Interessen und politische Perspektiven gesprochen wird. Ein halbwegs freies Gemeinwesen gebe es nur dann, wenn solche Räume existierten, in denen der einzelne seine persönlichen Fähigkeiten einbringen könne. Die Vermarktungsinteressen der hergestellten Öffentlichkeit bedrohten solche Gespräche, weil sie von einzelnen Gesprächsteilnehmern „in medialisierte Eigendarstellung“ umgesetzt würden. Deshalb müsse eine spezifische Gesprächskultur gegenüber den Vermarktungstendenzen geschützt werden. Gelingen solche Gespräche, entstehe das Politische „und schafft Voraussetzungen für gemeinsames politisches Handeln“.

Die politischen Akteure sollten laut Seifert vornehmlich die unmittelbaren Lebensbedingungen der Menschen als vordringliche Aufgabe der Politik ansehen. Es gehe darum, sich auf das zu konzentrieren, was Oskar Negt den „Gebrauchswert von Politik“ nennt. Wenn Politik dabei weiter versagt, vermag Politik aus der Bürgerschaft massenhaft wirksam zu werden, betont Seifert: „Das Gemeinwesen Mensch hat die Kraft, sich gegen Ausgrenzung zu wehren, es kann Mechanismen der Ökonomie, Koordinatensysteme von Politik und selbst Schranken des Denkens verändern. Diese Fähigkeiten des Menschen und die Dimensionen dieses Handelns sind unberechenbar.“ Daß dem Versagen von Politik kein Mehr an Humanität und Frieden oder ein Weniger an Unfreiheit und Elend folgen muß, das, warnt Seifert nachdrücklich, machten die Erfahrungen unseres Jahrhunderts deutlich.

Jürgen Seifert analysiert nüchtern und sachlich, wie sich der Handwerkskasten der Politik verändert hat. Obwohl oder vielleicht gerade weil Seifert immer auch politisch engagiert war, macht er ohne ideologische Scheuklappen deutlich, daß sich alle politischen Akteure der neuen, in ihrer Konsequenz oftmals demokratiefeindlichen Instrumente bedienen. Weil er aber nicht in der Analyse verharrt, sondern seine Texte auch ein Plädoyer für eine an den Bedürfnissen der Menschen orientierte, sie einbeziehende Politik sind, bleibt er seiner Linie treu. Dazu gehört auch die verständliche Schreibweise des Buches, das ein wichtiger Beitrag zur Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit ist.

Jürgen Seifert: „Politik zwischen Destruktion und Gestaltung. Studien zur Veränderung von Politik“. Hannover, Offizin Verlag 1997, 16,80 DM