Der vorläufige Höhepunkt nach dem langen Vorspiel des Terrors

Am 22. Dezember vergangenen Jahres wurde ein kleines Dorf in der Zentralregion des mexikanischen Bundesstaates Chiapas schlagartig weltberühmt: Acteal. 45 unbewaffnete Menschen, darunter 21 Frauen und 15 Kinder, wurden brutal getötet. Die Mörder: Indigenas aus der Nachbarschaft, ausgestattet mit Waffen und Logistik von den lokalen Behörden. Nach dem Aufstand der zapatistischen Guerilla Anfang 1994 militarisierte die Regierung die Region – unter Einsatz der Armee und mit dem Aufbau paramilitärischer Einheiten. Nach dem Massaker von Acteal sprach die Regierung von „Familienkonflikten“ – und hatte nicht ganz unrecht: Tatsächlich waren hier uralte Konflikte zwischen Familien und Dörfern ausgenutzt und von oben mit Waffen versorgt worden. Wie sich Mexikos ewige Regierungspartei PRI in Zentralchiapas mit allen Mitteln gegen den Zerfall ihrer Macht wehrt: Ein Lehrstück aus dem Mikrokosmos  ■ Von Anne Huffschmid

Die Nachmittagssonne liegt wie ein Schleier über den türkisfarbenen Häusern. Ein paar Frauen waschen ihre leuchtenden Blusen in Betontrögen, kleine Grüppchen junger Männer sitzen schwatzend auf dem Geländer herum. Die Herberge am Rand von San Cristóbal, in der seit Ende Dezember ein paar Dutzend Tzotzil-Familien leben, wirkt friedlich, solide und ein wenig leblos. „Hier fühlen wir uns sicher“, sagt Pedro Gutiérrez. Zu Hause aber fühlen sie sich nicht.

Hinter dem Herbergsgelände, wo die Stadt ins freie Feld übergeht, steht eine roh gezimmerte Holzhütte auf der Wiese. Die Luft riecht nach Rauch, Frauen und Kinder sitzen um ein offenes Mittagsfeuer. Pedro stellt die Besucherin vor, es entspannt sich ein lebhafter Wortwechsel, von dem Tzotzil-Unkundige nur das Wort balacera, Schießerei, aufschnappen können. Eine zierliche Frau mit grauen Strähnen im schwarzen Haar erhebt sich. Barfuß und winzig klein steht sie da vor ihrer Hütte, im sanften Singsang der Tzotziles sprudelt es aus ihr heraus: Wie sie gebetet haben, wie sie die ersten Schüsse gehört haben, von allen Seiten, und nicht mehr wußten, wohin fliehen. Wie sie den Abhang herunterstolperten, mit den Kindern auf dem Arm, und überall lagen Steine im Weg. Dann zieht sie plötzlich die zerschlissene Strickjacke über den Kopf und hält der Fremden ihren mageren, zerschossenen Rücken entgegen: Fünf kreisrunde Narben sind notdürftig verheilt, eine der Kugeln ist vorne, unter den welken Brüsten, wieder herausgekommen.

Die zurechtgelegten Fragen wollen nicht mehr gestellt werden, die Sprache streikt. Die Frau aber redet immer weiter. Nach wenigen Metern war sie zusammengebrochen im Schlamm, wie tot unter den warmen Leibern der anderen begraben. Gewartet, bis alles vorbei war, sechs endlose Stunden lang. Heute tut ihr jeder Atemzug weh. Und Manuela Pérez hat noch Glück gehabt: Alle ihre 15 Kinder haben das Gemetzel überlebt. „Jetzt wollen wir nach Hause“, sagt sie leise.

Nur wenige Autominuten weiter verweist kein Ortsschild auf den winzigen Weiler, in dem früher ein paar Dutzend Familien lebten und der am 22. Dezember schlagartig weltberühmt geworden ist: Acteal. Ein paar Hütten schmiegen sich in die Kurve der Straße, schmale Trampelpfade führen den Abhang hinunter, Plastikplanen und ein paar Wellblechdächer sind zwischen den Büschen verteilt. Hier und da brennen kleine Feuer vor den Hütten, die Wände sind mit Kinderzeichnungen behängt. Antonio Gutiérrez Pérez, einer der Repräsentanten der Gemeinde, zeigt die Einschußlöcher in der Holzbaracke direkt am Abhang.

In dieser „Kapelle“ hatte der Ortsvorsteher die 300 Frauen, Kinder und Männer, die schon zwei Tage lang „für den Frieden“ gebetet und gefastet hatten, noch zu beruhigen versucht. „Ob wir leben oder sterben, das hängt allein von Gottes Willen ab“, hatte er gesagt. Wenig später erwischte eine Kugel erst seine Frau und ihren Säugling, dann wurde auch er mit zwei Kopfschüssen getötet. Viele stürzten das steile, ausgetrocknete Flußbett herunter, suchten Zuflucht in Erdlöchern und Wasserstellen. Hier stapelten sich die Körper, noch Tage später lagen Hunderte von Schuhen in dem schlammigen Geröll.

Davon sind wenigstens noch die Fotos geblieben. Von den blutigen Leichenbergen gibt es dagegen kein einziges Bild. Noch mitten in der Nacht, bevor die Pressefotografen und das Rote Kreuz zur Stelle waren, so erzählt Antonio, waren die ersten „Leute von der Regierung“ angerückt, um die Leichen einzusammeln. Auf einer kleinen Anhöhe, nur wenige Meter über dem Flußbett, sind die Toten begraben. Keine Namen, nur ein paar verdorrte Blumen stehen in Blechdosen auf der struppig bewachsenen Fläche verteilt. Jetzt wird aus knallroten Ziegelsteinen eine Mauer um die Grabstätte hochgezogen. „Ein Haus für die Toten“ soll hier entstehen und daneben ein Gedenkstein für die „Märtyrer von Acteal“. Und Antonio legt Wert auf die Feststellung, daß die Toten nicht „einfach so“, sondern „im Kampf“ gestorben seien.

Aber was für ein Kampf? Was sind das für Leute, die nicht fliehen und keine Gegenwehr leisten, die ihren Feinden nur Fastentage und Gebete entgegenhalten? Sie nennen sich las abejas, „die Bienen“. Gegründet haben sie sich schon Ende 1992, lange vor dem ersten öffentlichen Auftritt der Zapatistas.

Angefangen hatte alles mit einer Familienfehde in einem kleinen Dorf namens Tzanembolom: Dort will ein Mann seinen beiden Schwestern partout nicht das Stückchen Land überlassen, das ihnen aus dem Erbe des verstorbenen Vaters zugestanden hätte. Ein Teil des Dorfes unterstützt die Schwestern, der Bruder sucht Hilfe in den Nachbardörfern. Es kommt zu Zusammenstößen, ein Mann wird dabei schwer verletzt. Aufgrund von ominösen Zeugenaussagen – und ohne jede Inspektion des Tatorts – werden der Katechist Mariano Pérez Vázquez und fünf weitere beschuldigt und ins Gefängnis nach San Cristóbal gebracht. Es droht ihnen eine Haftstrafe von zwanzig Jahren.

Aber die Compañeros wußten genau, daß wir es nicht waren“, sagt Mariano. Und so wird mobilisiert: Ein paar hundert Männer und Frauen organisieren, unterstützt von den katholischen Basisgemeinden der Diözese von San Cristóbal, tägliche Märsche vors Gefängnis. Die abejas, „Bienen“, werden geboren – „weil die Bienen im Bienenstock den Honig immer zusammen machen und dabei nur eine einzige Königin anerkennen“, erklärt Mariano die Namensgebung – und ihre Emsigkeit ist bald von Erfolg gekrönt: Nach gut drei Wochen haben sie ihre Leute aus dem Knast geholt. Die „Bienen“ aber machen weiter.

Als mit der zapatistischen Guerilla EZLN im Januar 1994 die Option des bewaffneten Kampfes näherrückt, entscheiden sich die religiösen abejas für die Neutralität. „So wie unser Körper zwei Augen, zwei Ohren und zwei Hände hat“, sagt einer ihrer Gründer, „so muß die Gesellschaft ihre beiden Standbeine haben. Die EZLN ist eines, und wir als Zivile sind das andere.“ Sie üben sich in zivilem Widerstand, verweigern Strom- und Steuerzahlungen, organisieren Menschenketten als Schutzgürtel um die Treffen der EZLN mit der Regierung und nehmen an politischen Foren teil. Dennoch begreifen sich die „Bienen“ ausdrücklich nicht als Zapatisten – und gelten deshalb als verwundbarste Gruppe zwischen den Fronten.

Die Tatsache, daß diesmal auch die Angreifer Indios waren, läßt das Massaker in einem besonders barbarischen Licht erscheinen. Anna Garza wendet sich trotzdem gegen die Sicht von den mordenden Indios als nur von außen manipulierten Geschöpfen. Die entscheidende Frage sei vielmehr, wie das feingesponnene Netz von Machtbeziehungen und Interessenkonflikten ausgenutzt werden konnte, um den Konflikt eskalieren zu lassen.

„Man muß einfach die seit Generationen bestehenden Konflikte ein wenig anheizen, die teilweise archaischen Spaltungen in den Dörfern vertiefen, die fragilen Gleichgewichte destabilisieren“, schreibt auch der Historiker Andrés Aubry. Von außen dazugekommen war dann allerdings jener entscheidende Faktor, der die Eskalation im Mikrokosmos Chenalhó erst möglich gemacht hatte: die Waffen.

Anders als in weiten Teilen des oligarchischen Chiapas ging und geht es in Chenalhó nicht wirklich um die Landfrage. Schon in den vierziger Jahren wurde hier ein Großteil des Großgrundbesitzes per Agrarreform in Ejido-Land umgewandelt, seit dem später einsetzenden Exodus der Landlosen Richtung Regenwald, dem Nährboden der zapatistischen Revolte, hatte sich der Kampf um den Boden in der Region entspannt. Die letzten Landkämpfe wurden in den achtziger Jahren ausgefochten, heute ist der Boden in Chenalhó zwischen Ejido-Bauern, Gemeindeland und Minigrundbesitzern, die ein, zwei Hektar bebauen, weitgehend verteilt.

Statt dessen geht es in Chenalhó um die Macht. Nicht so sehr in Gestalt der traditionellen Oligarchen, der Großgrundbesitzer und Viehzüchter, sondern der indigenen Kaziken. Seit den fünfziger Jahren, als die Zentralregierung verstärkt zweisprachige Lehrer als Vorhut des offiziellen Mexiko zur Durchdringung der indigenen Dorfgemeinschaften schickte, bildete sich hier so etwas wie ein modernes Kazikentum heraus. Schon durch die Entstehung unabhängiger Bauernbewegungen sah die indianische Kaziken-Elite ihr Kontrollnetz geschwächt. Und erst recht durch den zapatistischen Aufbruch, der in dieser Gegend erst 1995 ankam, zur Zeit der Verhandlungen um indigene Autonomien.

Im Vorfeld der Kommunalwahlen 1995, als sich der Sieg des Kandidaten der linksoppositionellen PRD abzeichnete, sprang der autonome Funken schließlich über. Zunächst versuchte die PRD-Basis noch, den Bürgermeister der ewigen Regierungspartei PRI vorzeitig seines Amtes zu entheben und durch ihren Kandidaten zu ersetzen. Als die Polizei die Besetzer aus dem Rathaus vertrieb, beschloß die radikalere Fraktion die Schaffung einer autonomen Gemeinde in der alten Zeremonialstätte Polhó, knapp vierzig Autominuten nördlich vom offiziellen Chenalhó.

Auch die Autonomen nehmen es genau mit der Personenkontrolle. Ein Transparent bittet „höflichst“, sich bei den Compañeros von der EZLN auszuweisen. Zwischen den buntbemalten Häuserfassaden hat das Rote Kreuz ein riesiges Zelt aufgeschlagen, weiter unten spielen Jugendliche Basketball. Ein kleiner Bretterverschlag am Hang dient als Empfangshalle, deren Fenster einen Panoramablick über die weite Ebene freigeben. Zwischen den Hügeln blinken die farbigen Plastikplanen der sechs riesigen Flüchtlingscamps rund um Polhó. Das Gesundheitszentrum ist geschlossen, Schulunterricht hat schon seit Monaten nicht mehr stattgefunden.

Wann alles begonnen habe? Der Gemeindevorsteher Domingo Pérez Paciencia holt weit aus. „Vor 506 Jahren...“, mit Columbus. Der Kampf gegen das Unrecht, der Widerstand, bis heute. Als man noch bei der PRI war, habe es niemals eine Reaktion auf die vielen Anträge und Beschwerden gegeben. Seitdem man kurzerhand die „eigenen Autoritäten“ gewählt habe, gehöre man nicht mehr zur Regierung und will auch nichts mehr von ihr. „Wir wollen von der Regierung keine gebrauchten Hosen oder ein bißchen Abfall“, sagt Domingo, „dafür haben wir nicht gekämpft.“ Sondern? Für die „Abkommen von San Andrés“, also für die Legalisierung der autonomen Gemeinden, die zapatistische Basisgruppen in ganz Chiapas gegründet haben. Domingo ist überzeugt, daß dem Angriff auf die „Bienen“ die Attacke auf das eigentliche Ziel folgen sollte: Polhó, die autonome Gemeinde, der 33 Dörfer und 17 Stadtbezirke angehören. Ob man sich bei einem erneuten Überfall denn wehren werde? „Soweit man sich mit Macheten eben wehren kann“, grinst Domingo. Flüchten werde man jedenfalls nicht. „Wohin auch?“

So erscheint Acteal nur als ein vorläufiger Höhepunkt nach einem langen Vorspiel des Terrors. Begonnen hatte es im Sommer letzten Jahres, als auf offizielle Weisung ein „politischer Zensus“ erstellt werden sollte. Dieser hatte selbst an der PRI-Basis für Unmut gesorgt, viele befürchteten, daß damit die Dörfer endgültig gespalten würden. Heute ist die Polarisierung schon auf den ersten Blick buchstäblich unübersehbar: Während auf manchen Hütten in großen weißen Lettern „PRI“ auf die Holzwände gepinselt steht, sind andere weithin sichtbar mit „PRD“ gekennzeichnet; die neutralen „Bienen“ haben ihre Häuser weiß gestrichen.

Nach offizieller Lesart hat sich die Gewalt entlang einer Kette von „innerdörflichen“ oder gar „familiären“ Streitereien hochgeschaukelt. Unterschlagen wird dabei das entscheidende Bindeglied: die kalkulierte Eskalation von oben.

Zum Beispiel der Streit um die Kiesgrube: Der rechtmäßige Besitzer verläßt das zwischen Polhó und dem Nachbardorf Los Chorros gelegene Anwesen schon bald nach dem Zapatistenaufstand. Unter dem Banner der EZLN – ohne aber tatsächlich in der Guerilla organisiert zu sein – eignet sich 1994 eine Gruppe aus Los Chorros das Terrain an und bekommt von der Regierung schließlich das Nutzungsrecht. Zwei Jahre später beansprucht auch der autonome Gemeinderat von Polhó dasselbe Sandvorkommen, das innerhalb seiner Gemeindemarkierung liegt – und bekommt, von einer anderen Instanz, nun ebenfalls das Recht zuerkannt. Der Zusammenprall ist programmiert.

Angetrieben wird die Gewalt noch durch einen weiteren Anlaß: Der „offizielle“ Bürgermeister von Chenalhó, Jacinto Arias – der heute als einer der mutmaßlichen Organisatoren des Massakers im Gefängnis sitzt –, will, offensichtlich in Absprache mit Regierungsstellen, eine Straße durch das Hochland bauen lassen. Zu diesem Zweck läßt Arias, der nun zufällig auch die größte Lkw-Flotte am Ort sein eigen nennt, eine Art Zwangskollekte in der Region durchführen – wer sich weigert einzuzahlen, gilt als Querulant und sollte möglichst die Koffer packen.

Alle Versuche der „Bienen“, sich zwischen die Fronten zu stellen, mißlingen – und stacheln die andere Seite noch besonders an. Immer unverhohlener werden die Morddrohungen gegen die Autonomen, die „Bienen“, die jetzt offen als Zapatisten angefeindet werden, und selbst gegen PRI-Familien, die nichts mit der Waffengewalt zu tun haben wollen.

Mitte September kommt es zum ersten Angriff gegen die „Dissidenten“ in Los Chorros. Manche können über Nacht noch fliehen, mit nichts als ihrem Hemd am Leib. Die zurückgebliebenen Familien, vor allem Frauen und Kinder, bleiben eingekesselt. Sie werden zu Zwangsabgaben und Strafgeldern gezwungen, keiner darf mehr den Ort verlassen. Die ersten Hütten der Geflohenen werden angesteckt, ihre Habseligkeiten und Kaffeevorräte „beschlagnahmt“.

Die ersten Flüchtlingslager entstehen, darunter auch das „Friedenscamp“ in Acteal. Wenige Tage später dringt ein Trupp Maskierter aus Los Chorros in Polhó ein. Die Bewohner fliehen in die Berge, der Ort wird vorübergehend zum Geisterdorf. Gerüchte über zapatistische Attacken werden allerorten in Umlauf gebracht, man ruft zur „Selbstverteidigung“ auf.

Trotz eindringlicher Warnung lokaler Menschenrechtsgruppen schreitet die Armee nicht ein. Im Gegenteil: Wie jetzt aus den Zeugenaussagen der Inhaftierten hervorgeht, haben Uniformierte die paramilitärischen Trupps in den Wochen vor dem Massaker mehr als einmal begleitet. Jede Woche gibt es neue Tote, die von offizieller Seite zumeist den Autonomen zur Last gelegt werden. Der Exodus der Vertriebenen reißt nicht ab, immer mehr Hütten gehen in Flammen auf. Noch Anfang Dezember scheitert ein allerletzter Dialogversuch.

Bei aller Vorhersagbarkeit: Mit dem Ausmaß des Terrors vom 22. Dezember hatte niemand gerechnet, der Massenmord wurde zur Zäsur. „Danach ist nichts mehr wie vorher“, sagt Anna Garza. Acteal ist – buchstäblich – zum point of no return geworden. An die 500 Menschen sind heute wieder in das Lager zurückgekehrt, an eine Rückkehr in ihre Heimatdörfer aber ist vorerst nicht zu denken.

Viele Kinder sind noch immer krank vor Angst, manche der überlebenden Frauen halb verrückt und schwer depressiv. Antonio Gutiérrez Pérez glaubt, daß sich die Vertriebenen in Acteal auf „mindestens ein, zwei Jahre“ einrichten müssen. Selbst das Rote Kreuz geht heute davon aus, daß die Flüchtenden sich anderswo eine neue Existenz aufbauen müssen. Bleibt die Frage nach den Mördern, die ja aus der Nachbarschaft kommen, aus den gleichen Dörfern und Familien wie ihre Opfer. „Die müssen im Drogenrausch gewesen sein“, sagen die Leute immer wieder. Die Anwältin Martha Figueroa hat heute noch Alpträume von den Zeugenaussagen. So hat sie einen 15jährigen Zeugen begleitet, der mit ansehen mußte, wie seiner toten Mutter ein Stab in die Vagina gerammt wurde. 16 Morde hat er gesehen und unter den Inhaftierten diverse Gesichter den Greueltaten zugeordnet. Die 11jährige Micaela erinnert sich, wie die maskierten Männer nach der Schießerei mit Macheten zurückgekommen waren und in den Leichen herumgestochert haben. „Man muß schon den Keim ersticken“, hätten sie sich lachend zugerufen, mehreren Schwangeren den Bauch aufgeschlitzt und die Föten herumgeworfen.

Ganz genau scheint sich niemand erklären zu können, was die jungen Tzotziles zu gedungenen Killern gemacht hat. Es gibt nur Anhaltspunkte: das Geld und das Prestige der Knarre. Es sind land- und arbeitslose junge Männer, oft Kinder zerrissener Familien, die zu Parias ihrer eigenen Dorfgemeinschaft wurden. Durch die ständige Arbeitssuche sind sie längst vom dörflichen Leben ausgeschlossen, die Schießübungen werden zur willkommenen Abwechslung und zum Mittel gegen die eigene Machtlosigkeit. Die 1.400 Pesos „Grundlohn“, rund 300 Mark, sind für die Region eine Menge Geld, höherrangige Söldner bekommen bis zu 5.000 Pesos.

Attraktiv ist zweifellos auch die impunidad, die Straffreiheit, also das Wissen, daß man immer davonkommen wird. So hatten die ersten, die im Januar von der Bundespolizei festgenommen wurden, das Ganze anfangs noch für einen Irrtum gehalten. „Aber wir sind doch von der PRI“, riefen sie immer wieder und hielten verstört ihre Parteiausweise hoch.

Neu ist die Paramilitarisierung in Chiapas nicht. Im Lauf der Zeit hat sie nur ihre Form verändert. Waren es nach der Revolution noch die Pistoleros der Kaffeepflanzer, die deren Latifundien gegen revolutionäre Truppen und die Agrarreform verteidigten, so verwandelten sich diese ein paar Jahrzehnte später in die sogenannten Weißen Wachen, die in den sechziger Jahren zur Verteidigung der Landbesitzer legalisiert wurden. Diese waren keine einfachen Bauern mehr, sondern durchtrainierte junge Männer, die zu einer Art „Parallel- Polizei ohne Uniform“ wurden.

An die Stelle der persönlichen Loyalität gegenüber dem Dienstherren trat nun, so schreibt der Historiker Andrés Aubry, eine „Dienstleistung für die gesamte Kazikenklasse“. Und im Unterschied zu Pistoleros und Weißen Wachen agieren die modernen Paramilitärs von heute nicht mehr als Einzelpersonen, sondern in regelrechten Stoßtrupps.

Einer der Orte, die als Wiege für die neue paramilitärische Mobilisierung gilt, ist das Ejido Los Chorros. Anfang des 19. Jahrhunderts war das Land königlicher Besitz, nach der Unabhängigkeit wurde es zum ständigen Zankapfel zwischen Indio-Gemeinden und Hacienderos. Ein mestizischer Großgrundbesitzer gründete hier eine Finca, wenig später wurde diese von einem mächtigen, postrevolutionären Politiker beschlagnahmt. Don Manuel aber vernachlässigte seine Finca, die mit der Zeit immer weniger Kaffee produzierte. Ende der dreißiger Jahre organisierte ein Gesandter der Revolutionsregierung die Arbeiter der Finca und forderte sie auf, das Land „zurückzuerobern“. Los Chorros wird so zum De- facto-Ejido – und von der Agrarbürokratie erst 35 Jahre später formalisiert. „Nehmt, was ihr kriegen könnt“, hatte der Gesandte den Landarbeitern geraten. Manche griffen schnell zu, andere zögerten, viele blieben ohne Land. Die landlosen Bauern sahen sich zur Armut verdammt – oder eben zum Diebstahl gezwungen.

Zudem wird der Boden knapp: Waren es Mitte der siebziger Jahre noch 157 Ejido-Bauern, so sind es heute fast dreimal so viele. Anträge auf die – legal zustehende – Ejido-Erweiterung bleiben jahrzehntelang ohne Antwort. So bot die Paramilitarisierung von 1997 den Landlosen von Los Chorros die Möglichkeit, den Raub zu legitimieren, die Strafgelder und Zwangsabgaben werden zur willkommenen Einkommensquelle. Und die Waffen verschaffen ihnen schließlich „ein Prestige, das sie nie zuvor gehabt haben“.

Die Risse gehen quer durch die Familien. „Hier gibt es Eltern, die ihre eigenen Söhne verleugnen und sogar anzeigen, weil die mit den Paramilitärs mitgegangen sind“, erzählt Amado Avendaño, der bei den letzten Wahlen für die PRD für den Gouverneursposten kandidierte. Vor ein paar Monaten sei ein in Tränen aufgelöster Vater heimlich zu ihm gekommen und habe von seinem Sohn berichtet. Dieser hatte nie zur Schule gehen und auch nicht bei der Feldarbeit helfen wollen. Dann habe er vom Ortsvorsteher einen Lohn und ein neues Gewehr bekommen. Wenn er gelegentlich nach Hause gekommen sei, habe er seinem Vater die Knarre und die Geldscheine unter die Nase gehalten: „Sieh mal, jetzt bin ich wer.“

Heute sitzt der Sohn als einer der mutmaßlichen Killer von Acteal im Gefängnis. Die meisten aber, davon sind hier fast alle überzeugt, laufen noch immer frei herum. „Sie begegnen uns immer mal wieder auf den Straßen“, sagt Mariano Vázquez bitter, „trinken ihre Coca-Cola und freuen sich des Lebens.“