Das Ende der Reise der Chancenlosen

200.000 irakische Flüchtlinge sitzen seit dem Golfkrieg in der jordanischen Hauptstadt fest. Zurück in ihre Heimat können sie nicht. Nach Europa gibt es keine Visa. Und Saddam Hussein erfreut sich bester Gesundheit  ■ Aus Amman Karim El-Gawhary

Irgendwo zwischen der Gemüse- und Fleischabteilung eines kleinen Supermarktes in der jordanischen Hauptstadt Amman ist Abu Wisan fast immer zu finden. Im Laden seines Onkels ist er so etwas wie das „Mädchen für alles“, vom morgendlichen Großmarkteinkauf bis zum täglichen Umgang mit den Kunden. Die werden auf den ersten Blick kaum gewahr, daß Abu Wisan zwischen Waschmittelpackungen und Chipstüten nicht schon seit jeher zu Hause ist. Der 41jährige Iraker hat Pech gehabt. Fast zwanzig Jahre hatte er als Flugingenieur für die staatliche irakische Fluglinie gearbeitet. „Bis heute lebe ich in meinen Träumen im Inneren der Flugzeuge. Früher war ich für die ganz großen Boeings zuständig.“

Mit dem Golfkrieg, dem folgenden UN-Embargo und den von den USA, Großbritannien und Frankreich verhängten Flugverbotszonen im Nord- und Südirak gab es eigentlich keinen unpassenderen Arbeitgeber als Iraqi Airlines. Deren Flugzeuge saßen fortan am Boden fest. Abu Wisan war nur noch sporadisch für die Wartung zuständig. Das letzte Mal hat er vor drei Jahren Hand an einen Flugzeugmotor angelegt. Seit der in Ohio (USA) graduierte Flugingenieur vor einem Jahr bei der irakischen Fluglinie gekündigt hat und nach Amman gekommen ist, repariert er im Supermarkt seines Onkels bestenfalls die Tiefkühltruhen. „Wer Flugzeugmotoren reparieren kann, kommt mit jeder Maschine zurecht.“ Beworben hat er sich bei den Fluglinien Hongkongs, Malaysias, der Arabischen Emirate und Maltas. Bisher erfolglos. „Wer will schon einen irakischen Flugingenieur anstellen, selbst wenn er zwanzig Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel hat“, sagt er resigniert.

Wie Abu Wisan, haben in der jordanischen Hauptstadt viele Iraker ihr zweites Leben begonnen. Manche flohen aus politischen, andere aus ökonomischen Gründen. Unter der Hand ist auch von einigen Kriminellen die Rede, die sich ins sichere Nachbarland abgesetzt haben. Daneben gibt es eine ganze Reihe von Irakern, die sich durch Kleinhandel und Schmuggel zwischen beiden Ländern über Wasser zu halten versuchen. Wie viele Iraker im jordanischen Königreich leben ist eine große Unbekannte. Die jordanische Regierung weigert sich bisher, offizielle Zahlen zu veröffentlichen. Arbeitsgenehmigungen hat kaum einer von ihnen. Als politische Flüchtlinge sind die wenigsten anerkannt. Das UN- Flüchtlingskommissariat in Amman, das für das Anerkennungsverfahren zuständig ist, hat dieses Jahr gerade einmal etwas mehr als 500 Iraker als politische Flüchtlinge akzeptiert. Inoffizielle Schätzungen sprechen von 200.000 in Jordanien lebenden Irakern. Keine unbedeutende Zahl in einem Land mit lediglich 5,5 Millionen Einwohnern. Eine Zahl, die großen Schwankungen unterworfen ist. Viele der in Amman lebenden Iraker versuchen, sich nach Europa oder in die USA abzusetzen. Für sie fungiert die jordanische Hauptstadt lediglich als eine Art Durchlauferhitzer.

Wie viele es auch sein mögen: aus dem Straßenbild Ammans sind sie kaum noch wegzudenken. Der zentrale Busbahnhof im Stadtzentrum etwa, direkt neben dem Platz der Haschemiten, ist fest in irakischer Hand. Von hier aus fuhren früher die Busse nach Bagdad, bevor deren Station nach etwas außerhalb verlegt wurde. Geblieben sind eine ganze Reihe irakischer Schnellrestaurants. Es riecht geradezu nach Bagdad. Abu Maissan arbeitet in der Teeküche. In kleinen Gläsern schenkt er das für Irak so typische pechschwarze Gebräu aus, das nur dadurch trinkbar gemacht wird, daß er das Glas bis zur Hälfte mit Zucker auffüllt.

Der 54jährige, mit seinen grauen Haaren und Bart und seinen tiefen Furchen im Gesicht, sieht aus wie jemand, der es nicht einfach hatte im Leben. Nur seine leuchtenden Augen sprechen von seiner Lebhaftigkeit, die er sich bewahrt hat. Acht Jahre lang war er als Kriegsgefangener im Iran. Während der alliierten Luftangriffe der Operation Wüstensturm hatte er in seinem Haus in Bagdad mit zwei Frauen und acht Kindern ausgeharrt, bis der Spuk vorüber war. Vor zwei Jahren hatte er genug und setzte sich nach Jordanien ab. Daß er für die illegale kommunistische Partei aktiv war, erwähnt er nur in einem Nebensatz. Niemals, so sagt er, würde er in den Irak zurückkehren. Er erwartet auch in Zukunft nichts Gutes für seine alte Heimat. „Nach Saddam Hussein kommt auch nichts Besseres“, stellt er trocken fest.

Einen Fußmarsch von der Teeküche entfernt lebt ein irakischer Maler und Bildhauer, der es vorzieht, seinen Namen nicht zu nennen. Seine Hütte, auf einem der Hügel der jordanischen Hauptstadt gelegen, ist einer der Treffpunkte der irakischen Exilkünstler. Von seinem komfortablen Leben in Bagdad mit Haus und Auto ist ihm wenig geblieben. „Es waren politische Gründe, nicht wirtschaftliche, weswegen ich den Irak hinter mir gelassen habe“, betont er. Ein kurzer Blick in die Hütte läßt wenig Zweifel an dieser Version. Außer einem Feldbett, einem Wäscheständer und einem Stapel alter Zeitungen scheint er nichts zu besitzen. Seit vier Jahren lebt er hier. Früher soll er angeblich in der kommunistischen Partei aktiv gewesen sein. Seine Miete zahlt er durch gelegentliche Anstellungen als Kunstlehrer. Ob er sich vorstellen könnte, jemals wieder in den Irak zurückzukehren?. „Nie wieder“, antwortet auch er spontan, auch wenn Saddam Hussein irgendwann nicht mehr sein sollte. Der irakische Präsident habe die gesamte Gesellschaft vollkommen militarisiert. Das sei kein Klima für Kreativität. Die gesamte intellektuelle Elite lebe im Ausland. Doch dann hält er inne. „Natürlich gibt es viele Erinnerungen, etwa an die Kindheit oder an die erste Liebe. Wer immer sagt, daß er nie wieder zurückkehren will, sagt das vom Kopf her und nicht aus dem Bauch heraus“, fährt er nachdenklich fort. Vielleicht ließe sich doch irgendwann einmal ein vollkommen neuer Irak aufbauen. Dies sind für ihn aber nichts weiter als Gedankenspiele. Praktisch gesehen, würde auch er sich am liebsten nach Europa absetzen. Aber ohne Visa und ohne einen Pfennig Geld bleibt selbst das ein unerfüllbarer Traum.

Eine Gruppe irakischer Jugendlicher vor einem nahe gelegenen Friseursalon zeigt sich nicht weniger depressiv. „Das ganze Spiel zwischen den USA und der irakischen Regierung geht auf unsere Kosten“, echauffiert sich einer von ihnen. Den Amerikanern und der UNO ginge es letztendlich überhaupt nicht um die Leiden des irakischen Volkes. „Warum besuchen die UN-Inspektoren Präsidentenpaläste und suchen nach Waffen, anstatt sich die Gefängnisse von innen zeigen zu lassen?“ fragt ein junger schiitischer Rechtsgelehrter. Statt sich an anspruchsvollen religiösen Debatten zu beteiligen, arbeitet er jetzt als Anstreicher am Bau. Am liebsten, fährt er fort, bleibe er mit den Irakern unter sich. Die Jordanier findet er zu verschlossen und engstirnig. Und auch als schiitscher Muslim sei das Leben im vom sunnitischen Islam dominierten Jordanien nicht immer einfach.

Sein Unmut über seinen Zufluchtsort ist nicht ganz fair, meint der ehemalige Chefredakteur der Jordan Times, Rami Khouri. Das Königreich habe schon oft als sicherer Hafen für alle Art von Leuten auf der Flucht gegolten. Jordanier sähen die irakische Gemeinschaft in ihrem Land mit viel Sympathien. Es gebe wenig Konflikte, erklärt er. Die offizielle Flüchtlingspolitik gibt ihm recht. Die Kinder der wenigen Iraker, die als politische Flüchtlinge anerkannt wurden, haben sogar ein Anrecht auf einen Schulplatz in einer der staatlichen Schulen Jordaniens.

Doch nicht immer gehen die Beziehungen zwischen irakischen Exilanten und ihrem Gastland spannungsfrei vonstatten. Als etwa die irakische Regierung Ende letzten Jahres vier Jordanier wegen angeblichen Schmuggels hinrichten ließ, antwortete die jordanische Regierung mit allerlei Razzien und Gängeleien innerhalb der irakischen Gemeinde in Jordanien. Und auch einige mysteriöse Morde in der besser betuchten irakischen Geschäftswelt in Jordanien mußten von den weniger gut bemittelten Irakern ausgebadet werden. Wer keine gültige Aufenthaltsgenehmigung in der Tasche hatte, wurde in den auf die Morde folgenden Straßenkontrollen festgenommen, und so mancher wurde, so erzählen es zumindest einige der irakischen Exilanten, in den Irak ausgewiesen.

Die größte Angst herrscht allerdings nicht vor den jordanischen Behörden. Der irakische Geheimdienst ist in der jordanischen Hauptstadt allgegenwärtig. Unterhalten sich die Iraker über ihr Heimatland, und das ist naturgemäß ihr Lieblingsthema, dann tun sie das meist nur nach einem kurzen versichernden Blick über die Schulter.

Die Jugendlichen vor dem Friseurladen fühlen sich jedenfalls irgendwie in der Falle. „Die Welt hat uns aus dem Irak diesen einen Fluchtweg nach Jordanien offen gelassen und uns am Ende hier eingesperrt“, sagt einer von ihnen. Die meisten haben gerade einmal eine sechsmonatige Aufenthaltsgenehmigung, kein Geld für eine Weiterreise und ohnehin nur eine geringe Aussicht auf ein Visum irgendeines Staates. Also warten die meisten auf bessere Zeiten und versuchen, sich mit Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen. Vor der Hussein-Moschee im Stadtzentrum warten die irakischen Tagelöhner allmorgendlich auf Arbeit. In kleinen Gruppen haben sie sich auf dem Vorplatz der Moschee niedergelassen. Irakische Kleinhändler bieten irakische Zigaretten feil. „Mein letztes Stück Heimat“, grinst der irakische Filmemacher Sabah Finjan und steckt sich eine davon an. Letzten Sommer ist er nach Amman gekommen. Schabab-TV , der Fernsehsender Udais, des Sohnes Saddam Husseins, hätte die Dienste des Dokumentarfilmers gerne in Anspruch genommen, erzählt er. Finjan wollte sich dagegen vom Regime fernhalten. Als er dann noch den später vom irakischen Regime in Ungnade gefallenen irakischen Dichter Al-Bayad interviewt hatte, war es für ihn selbst an der Zeit, das Land zu verlassen. Seine Kamera mußte er in Bagdad lassen. Heute arbeitet er gelegentlich auf dem Bau. „Das macht mich nicht physisch, sondern psychisch fertig“, sagt er. Falls er noch jemals in seinem Leben dazu kommen sollte, einen Film zu drehen, dann würde er die Misere des Lebens eines Irakers künstlerisch zu beschreiben versuchen. Die einzelenen Szenen hat er in seiner Phantasie bereits durchgepielt. Einen Titel hat er auch schon gewählt: „Die Reise eines Chancenlosen“.