Heidegger überbietend

Der Philosophieprofessor Michael Theunissen hält heute seine Abschiedsvorlesung. Ein Kurzporträt  ■ Von Andrea Roedig

Höchste Konzentration. Angespanntes Zuhören. Es ist die Haltung einer geradezu gnadenlosen Ernsthaftigkeit, die die philosophischen Seminare von Michael Theunissen kennzeichnet. Und es ist die Kombination aus penibler Texttreue und großen Themen, aus gezügeltem Sprechen und ungezügelt tiefen Thesen, gepaart mit der Kraft origineller Interpretation klassischer Texte, die Theunissen zu einem bedeutenden, schulbildenden Lehrer machen. Kaum zu glauben, daß dieser zurückhaltend mächtige Philosoph, der seit achtzehn Jahren das Gesicht des Instituts für Philosophie der Freien Universität prägt, ein gebürtiger Berliner ist.

Über den „Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard“ promovierte Theunissen 1955 – mit 23 Jahren. Er lehrte als Assistent in Berlin, als Professor in Bern und Heidelberg, bis 1980 Peter Glotz, damals Berliner Wissenschaftssenator, Theunissen zusammen mit Ernst Tugendhat, Lorenz Krüger und Wolfgang-Fritz Haug an die Freie Universität berief. Glotz wollte neue, auch politische Akzente am Berliner Institut für Philosophie setzen, was nicht ohne Feindseligkeiten ablief. Denn das Professorenduo Theunissen/Tugendhat stand für eine engagierte Philosophie; öffentlichkeitswirksam beteiligten sich beide u.a. an der Mutlangen- Blockade gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen.

Philosophisch besetzte Theunissen Gebiete, die unter den großen Titeln „Metaphysik, Ontologie, Theoretische Philosophie“ laufen. Eckpunkte seiner Lehre waren immer wieder Hegel und Schelling, Kierkegaard und Heidegger. Sie spannen ein Netz, in dem sich Idealismus und existenzphilosophischer Anspruch kreuzen. Mit dem Buch „Der Andere“ (1964/1977) legte Theunissen Studien zur Sozialontologie vor, mit „Sein und Schein“ (1978) ein Grundlagenwerk zu Hegels Logik.

Ein zentrales Merkmal von Theunissens Methode und Denken ist der sogenannte „Negativismus“. Er geht davon aus, daß sich unter den Bedingungen der Moderne, anthropologische Bestimmungen nicht mehr positiv gewinnen lassen. Nur aus Negativphänomenen wie Angst, Verzweiflung, Mißlingen, Nicht-man-selbst-Sein lasse sich ablesen, was gelingendes Leben wäre. So hielt Theunissen Mitte der achtziger Jahre eine Vorlesungsreihe „Zeit und menschliches Dasein“, in der er von psychopathologischen Formen der Zeiterfahrung ausging, um die These von der generellen Herrschaft der Zeit zu belegen. Die Buchtitel lauteten jetzt „Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung“ (1991) und „Negative Theologie der Zeit“ (1991).

Seit den neunziger Jahren wendet sich Theunissen verstärkt frühen griechischen Texten zu und verfolgt sie rückwärts bis dorthin, wo sie noch keine „Philosophie“ sind. Das Projekt Heideggers überbietend sucht er noch vor den Vorsokratikern, in der griechischen Lyrik, bei Pindar und Hesiod beispielsweise, zu ergründen, woraus sich Metaphysik hat entwickeln können. Hinter die griechische Metaphysik zurückzugehen heißt auch, hinter das Christentum zurückzugehen. Theunissen ist ein geschichtlicher und ein religiöser Denker: Der verzweifelte Negativismus wäre nicht auszuhalten, ohne eine Hoffnung auf Erlösung. So erklärt sich das strenge und ernsthafte Denken aus der Spannung von Verfallsgeschichte und Heilserwartung.

Michael Theunissen wurde zum Ende des letzten Wintersemesters emeritiert.

Heute, 17 Uhr: Abschiedsvorlesung „Philosophie und Philosophiegeschichte. Rückblick eines Lehrers“, Henry-Ford-Bau, Garystraße 35–39, Dahlem