Pissen aus großer Höhe

■ T.C. Boyles neues Buch "Riven Rock" handelt von einem Mann, der für Sex alles riskiert. Prädestiniert das einen Autor zu Kommentaren über den Penis des amerikanischen Präsidenten?

taz: Herr Boyle, um was geht es in Ihrem neuesten Roman „Riven Rock“?

T.C. Boyle: Das wird jetzt keine kurze Antwort. Sind Sie bereit?

Legen Sie los.

Es ist ein Buch über Sexualität, eine Ehe, Treue und den Irrsinn. Ich bin vor einigen Jahren auf diese tatsächliche Geschichte gestoßen, als ich von Los Angeles nach Santa Barbara zog. Es geht um Stanley McCormick und Katherine Dexter. Stanley war der Sohn von Cyrus McCormick, dem Erfinder des mechanischen Mähdreschers. Sie waren also sehr reich. Er war ein sehr dynamischer, sportlicher und gutaussehender Mann, der in Princeton studierte. Mit 29 Jahren heiratete er Katherine Dexter, die eine sehr einflußreiche Frau war. Sie war die erste weibliche Absolventin in einem wissenschaftlichen M.I.T. Studium, wurde später bekannt in der Frauenbewegung, und auch sie war sehr reich. Sie heirateten in der Schweiz, und das war auch ihr letzter glücklicher Moment zusammen.

Warum das?

Kurz nach der Hochzeit hatte Stanley einen Nervenzusammenbruch. Er war schizophren, was allerdings noch nicht diagnostiziert wurde. Die Probleme einer Ehe liegen wohl darin, sexuell aktiv zu sein. Katherine konnte das aber nicht, Stanley konnte damit nicht umgehen, wurde gewalttätig und richtete sich gegen den Ursprung dieser Gewalt – und das waren die Frauen. Am Beginn dieses Jahres wurde so jemand als „sexuell verrückt“ bezeichnet. Stanley griff jede Frau an, die er sah. Seine Frau, seine Mutter, seine Schwester, eine Fremde auf der Straße. Für den Rest seines Lebens mußte er deshalb weggeschlossen werden, und das geschah auf seinem Grundstück Riven Rock in Santa Barbara. Seine Frau trennte sich aber nicht von ihm. Er starb erst 1948 und sie 1968. Allerdings wurde Stanley nicht erlaubt, andere Frauen zu sehen. Achtzig Männer arbeiteten auf seinem Grundstück für ihn, doch die Psychiater erlaubten ihm nicht, auch nur eine Frau zu sehen.

„Riven Rock“ ist ein historischer Roman. Was haben Sie nun hineingeschrieben?

Das ist ja das Schöne. Genau wie in „The Road to Welville“ weiß nur ich, wo die Wahrheit aufhört. Das ist der Witz dabei. Diese Geschichte allerdings ist weitestgehend wahr. Katherine beispielsweise durfte ihren Mann nicht mehr sehen, also schrieb sie ihm, sprach mit ihm am Telefon und beobachtete ihn aber auch durch ein Fernglas, hinter Büschen versteckt, um zu sehen, wie es ihm ging.

Wie lange haben Sie an dieser Geschichte gearbeitet?

Ich habe rund drei Monate mit der Recherche verbracht. Doch obwohl die Personen, um die es geht, fast unbekannt in der amerikanischen Geschichte sind, gab es doch eine Menge an Material über Stanley. Die McCormicks dachten einfach, typisch für reiche Leute, daß vielleicht einmal jemand über sie schreiben wird. All diese Papiere liegen in der „Wisconsin Historical Society“ in Madison. Das Schreiben der Geschichte dauerte dann nochmals ungefähr dreizehneinhalb Monate. Zum Vergleich, an meinen Büchern „World's End“ und „Watermusic“ habe ich jeweils drei Jahre gearbeitet. Und der Grund, warum es nun schneller geht, liegt darin, daß ich vor kurzem erkannt haben, daß man vor seinem Tod mehr Bücher schreibt als danach.

Einige Kritiker haben vorgeschlagen, daß es, genau wie in „Riven Rock“, auch im Weißen Haus männliche Pfleger geben sollte, die den Präsidenten von weiblichen Besuchern fernhalten. Wie sehen Sie das?

Am Anfang wollten alle Radiomoderatoren in Interviews, daß ich über den Penis unseres Präsidenten spreche. Und ich war ein bißchen verletzt bei solchen Fragen, denn immerhin habe ich vorher rund zwei Jahre an diesem Buch gearbeitet. Und dann fragte man mich immer nur nach meiner Meinung über den Penis des mächtigsten Mannes im Land! Doch irgendwann begriff ich, daß diese Reporter und Kritiker nur mein Buch in einen aktuellen Bezug setzten. Wir haben hier einen sehr wichtigen Mann, gebildet, der alles aus sexuellen Gründen riskiert. Also irgendwie macht diese Frage doch Sinn.

Sie schreiben sehr viel über Außenseiter in den USA. Könnten Sie sich vorstellen, dieselben Geschichten zu schreiben, wenn Sie in Deutschland lebten?

Ich glaube, das würde davon abhängen, in welcher gesellschaftlichen Schicht ich aufgewachsen wäre. Wenn es dieselbe wäre wie hier, also die Arbeiterklasse, dann würden mich auch dieselben Dinge umtreiben. Was ich jedoch immer wieder von Deutschland und jungen Autoren höre, ist, daß man dort nicht die gleichen schriftstellerischen Freiheiten hat, die ich hier genieße. Gerade die Literaturkritiker urteilen dort sehr schnell. Ich hingegen kann hier das schreiben, was ich will und kann dabei so ausgefallen sein, wie ich möchte. Vielleicht haben deshalb auch die deutschen Leser meine Bücher so gut aufgenommen, weil in ihnen etwas anarchistisches und freiheitsliebendes ist. Ich bin niemandem etwas schuldig, keiner hat mir je etwas abgeschlagen. Ich mache, was ich will und gebe einen Dreck darum, was Kritiker wollen. Worauf ich wert lege, ist meine Kunst und mich darin auszudrücken.

Aber Tatsache ist doch, daß die Kritiker Sie sehr gut behandeln. Von diesem Standpunkt aus läßt es sich leicht reden.

Das stimmt, ich glaube, wenn ich in einer Position wäre, in der mich Kritiker hart angingen, dann müßte ich meine Karriere wahrscheinlich neu überdenken. Ich hoffe aber nicht, daß ich das jemals machen muß. Aber vielleicht ist das auch gerade das Problem in Deutschland. Die Kritiker sollten die jungen Autoren schreiben lassen und sie darin unterstützen. Ich bin aber nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein Professor an der UC Santa Barbara. Ich verlange von meinen Schülern ja auch nicht, daß sie mich kopieren, sondern daß sie ihre eigenen Dinge schreiben. Und daher zitiere ich meinen Kritikern einen wundervollen Ausspruch aus dem Englischen: „I piss on them from a great height.“ Wissen Sie, eigentlich haben sie doch viel von Parasiten. Interview: Arndt Peltner