Idylle auf Zeit

Als Ideal schon lange tot, ist die Siedlung in Zeiten knapper Kasse auf dem Rückzug. Zu Unrecht, findet  ■ Hans Wolfgang Hoffmann

Was war ich froh, als die Möbel endlich verstaut waren. Längst war mir das Lebensmodell meiner Eltern, die die Siedlung mit ihren Ersparnissen aufgebaut hatten und lebenslang dort wohnen würden, zu eng geworden. Den Spielplatz meiner Jugend hatte ihre Bewohnerschaft mit immer neuen Zäunen umgeben und in ein Gefängnis verwandelt. Ich hatte genug von ihren Kinderfesten, ihren Argusaugen, wenn ich mit dem Rad auf dem Gehweg fuhr oder auf dem Rasen grillen wollte. Ich wollte raus aus der verschworenen Gemeinschaft, suchte die Masse der Individuellen, Also fort aus der Siedlung und rein in die Stadt. Dorthin, wo niemand fragte, wann man nach Hause kam, wo man nicht stundenlang fahren mußte, um Uni, Kino oder Kneipe zu erreichen. Für mich war die Siedlung tot.

An der Uni lernte ich, daß meine Erfahrung durchaus dem Zeitgeist entsprach. Mit „Stadt oder Siedlung“ lieferte der Stadtplaner Dieter Hoffmann-Axthelm die Überschrift für eine seit den Siebzigern anhaltende Debatte, die ein Leitbild durch ein anderes ersetzte, an seinem Alleinvertretungsanspruch aber festhielt. „Der Typus Siedlung selbst ist ein historischer Irrtum“, schrieb er und rechnete so mit dem ab, was bis dato gebaut worden war. Er meinte, im Abstandsgrün der Sozialsiedlungen den eigentlichen Auslöser für Vandalismus und Jugendkriminalität gefunden zu haben. Seine Polemiken schafften es freilich nicht, die Stadt materiell so aufzuwerten, daß sie zum alleinigen Lebensmodell hätte werden können. Die aktuelle Planwerksdiskussion blieb weitgehend Papier. Sie reichten jedoch, um das Lebensmodell Siedlung und das System gesellschaftlichen Mietwohnungsbaus, das sie hervorgebracht hatte, vollständig zu entwerten. Daß sich Bauherren wie vor hundert Jahren zusammenfinden und eine Siedlung als Gemeinschaftswerk errichten, sind heute Randerscheinungen. Projekte wie am Gatower Rotherbücherweg, wo 113 Familien, vermittelt durch das Büro Stadthaus, ihre Energie nicht in Zäune zwischen den Häusern, sondern in eine Kita steckten, kann man in Berlin an einer Hand abzählen. Auch den Begründern der gemeinschaftlichen Selbstversorgung fehlt infolge steuerrechtlicher Benachteiligung seit Jahrzehnten die Kraft zum Neubau. Spätestens seit den Genossenschaften 1990 die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde, haben sie Mühe, wenigstens den Bestand im Sinne ihrer Mitglieder am Leben zu halten.

Finanzpolitische Notwendigkeiten raubten der Siedlung die Geschäftsgrundlage. Kaum daß die letzten Dachziegel verlegt sind, stehen die letzten Siedlungen Karow-Nord, Altglienicke oder Rudow als Dinosaurier eines aussterbenden Systems in der Landschaft. Infolge der allgegenwärtigen Haushaltskrise ist ihr der prominenteste Fürsprecher weggebrochen: die öffentliche Hand. Während der erste Berliner Nachwendesenat noch an große Einheiten glaubte und 80.000 Mietwohnungen förderte, werden es in Zukunft kaum ein paar tausend sein. Um die Bewohner, von denen Berlin allein 1997 32.000 den Rücken kehrten, an die Stadt zu binden, unterstützt die Politik heute eigensinnige Häuslebauer. Ob das gelingt, ist fraglich. Nicht nur, daß damit eine Bauform bevorzugt wird, die weder mit Stadt noch mit Gemeinschaft kompatibel ist. Vielmehr werden erneut lebenslange Bindungen festgezurrt.

Ich selbst bin mittlerweile Vater und damit um die Erfahrung reicher, daß sich Wohnbedürfnisse im Lauf des Lebens ändern und es eine Behausung, die alle befriedigt, nicht gibt. Stadt und Siedlung sind keine Gegensätze, sondern eine ideale Ergänzung. Als die Kinder kamen, störte plötzlich, worüber sich zu echauffieren mir früher spießig vorkam: Hundekot, zugeparkte Gehwege und weite Wege in den Stadtpark. Einen Spielplatz, Kameraden für die Kinder, Nachbarn, die das ganze im Auge behalten, und das alles am besten im gleichen Haus – nach solchen Kriterien suche ich heute meine Wohnung aus. Ebenso sicher ist: Das Familienglück hat eine Halbwertszeit. Wenn die Kinder groß sind, wollen wieder die Vorzüge der Stadt ausgekostet sein. Ein Einfamilienhaus wäre für diesen Lebenswandel bloßer Ballast, eine Idylle auf Zeit kann nur die Siedlung bieten. Als Weltbild mit Alleinvertretungsanspruch tot, kann sie als Schauplatz eines Lebensabschnitts wiederauferstehen. Es lebe die Siedlung.