Vom Tänzchen auf der Urne

Annett Gröschner hat in ihrem Buch „Jeder hat sein Stück Berlin gekriegt“ die Lebensgeschichten von Senioren in Prenzlauer Berg aufgezeichnet  ■ Von Peter Walther

Wer vor Ratten unter den Dielen und Schimmel an den Wänden nicht zurückschreckte, konnte sich zu späten DDR-Zeiten per Gewohnheitsrecht und mit nachträglicher Genehmigung in eine der vielen leerstehenden Wohnungen in Prenzlauer Berg einmieten. Der Luxus der eigenen vier Wände war erschwinglich, da die Mietpreise auf dem Niveau von 1938 eingefroren waren. Freilich hatte man seit 1938 auch alle Ausbesserungsarbeiten an den Häusern „eingefroren“. Die Reklame auf dem bröckelnden Putz, die Luftschutztüren und die Zeitungen unter der Tapete, die ihre natürliche Verfallszeit weit überlebten, haben manchem Neubewohner den Sinn für die Historie des Orts geschärft. Annett Gröschner ist in ihrem Interesse für die Geschichte des Stadtbezirks einen Schritt weiter gegangen. Angefangen hat es mit dem Versuch, Lesungen für Senioren zu veranstalten. Dieser Versuch ist auf wunderbare Weise schiefgegangen: Die Alten wollten keine Geschichten hören, sie hatten selbst genug zu erzählen. Aus den Lebensgeschichten der Senioren in Prenzlauer Berg ist ein Buch entstanden, das jetzt im Rowohlt Taschenbuch Verlag unter dem Titel „Jeder hat sein Stück Berlin gekriegt“ erschienen ist.

„Ick bin in der Stargarder Straße geboren, und in der Stargarder werd ick och sterben...“, so wie die Erzählung von Hilde fangen viele der Lebensberichte an. Zumeist sind es – aus demographischen Gründen und wegen der Kriegsfolgen – Frauen, die zu Wort kommen. Hilde stammt aus proletarischem Milieu („wir ham immer Hinterhaus jewohnt“). Sie hat das, was andernorts „Berliner Schnauze“ genannt wird: „Ick bin 'n Kaiserschnitt uff'm Tisch jewesen, zu Hause. Det jing nachher so schnell [...], da ham die jesagt, sie müssen mich in Stücken holen, ick komme nich normal“, erzählt sie über ihre Geburt. Am tiefsten haben sich ihr (wie auch den anderen Befragten) die Erlebnisse in den letzten Kriegswochen eingeprägt, die Angst vor den Straßenkämpfen und dem Einmarsch der Russen, die Sorge um Unterkunft und Nahrung. „Später war dit allet nich mehr so uffregend“, berichtet Hilde, „bis auf meine Ehe. Det jing nich jut. Der Olle wollte mir später Scherben ins Essen tun. Det hab ick aber jemerkt. Als der tot war, hab ick dafür auf seiner Urne jetanzt, ohne Quatsch, da brauchte ick meine Krücken nich.“

Manche der Lebensberichte vermitteln den Eindruck, die Erzählenden hätten zeitlebens in einer Art Ausnahmezustand gelebt. Die historischen Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte mit ihren oft gravierenden Folgen für den privaten Alltag bilden in fast jedem Bericht den roten Faden. Bis 1939 schien die Welt aus kindlicher oder jugendlicher Sicht zumeist in Ordnung, dann kam der Krieg, die Besetzung und der Wiederaufbau, der 17. Juni und der Mauerbau, später eine Weile lang nichts, und schließlich, kaum noch erwartet, der Fall der Mauer, mit dem sich der Spannungsbogen schließt.

Am ausführlichsten erzählt Gerda. Die Zehnjährige, die in einer Familie von Anti-Nazis aufwächst („Dit is ja dit Schöne, daß wir och dit Menschliche noch drin hatten“), bekommt mit, daß nach 1938 immer mehr Wohnungen frei werden, weil die Juden emigrieren oder abgeholt werden. Zweimal wird die Familie ausgebombt, das Kriegsende erlebt sie im Keller der Oper in der Bismarckstraße, die von den russischen Soldaten angesteckt wird: „...ick meine, er [der Russe] war der Befreier, es war allet frisch, Wut war da, die haben Kinder verloren, die haben allet verloren, aber das war jetzt der Gipfel.“ Erst Jahre nach dem Krieg bekommt Gerda ihre erste eigene Wohnung, doch das Glück währt nur Tage: Das Haus in der Nähe der Mauer wird Sperrgebiet. Die Familie kümmert sich um einen Kleingarten: „Wegen der Mauer. Damit wa uns nich alle een greifen und an de Mauer andauernd stehen und weenen. Deswegen haben sich ja alle eens jenommen. Sonst wären se alle voll jewesen, die Irrenhäuser.“

Prenzlauer Berg war nicht nur Armeleuteviertel, in den großzügigen Wohnungen der Vorderhäuser wohnten zumeist bürgerliche Familien. Christa stammt aus einer Pfarrersfamilie, die im „Göhrener Ei“ wohnte, dem Halbrund zwischen Senefelder- und Raumerstraße. Sie löste sich nach dem Krieg von ihrer christlichen Erziehung und wurde Kommunistin. Ihr erster Mann stammte aus einem niedersächsischen Grafengeschlecht, war aktiv in FDJ und SED und wurde vom russischen Geheimdienst nach Westdeutschland geschickt. Die Eltern von Anna betrieben eine Kürschnerei: „Wir haben damals Scheitelaffe, Leopard und Ozelot verarbeitet, alles, was heute verpönt ist.“ Gearbeitet wird vorwiegend für jüdische Firmen, die zunehmend von der Bildfläche verschwinden. Ein Verehrer erzählt Anna von den Gaswagen: „Und es dauerte nicht lange [...], da sah ich so ein Ding fahren, an der Jerusalemer Kirche. Und da wurde mir kalt, und da habe ich gewußt, was läuft.“

Einige der elf Interviews, die von Annett Gröschner bearbeitet und zum Teil umstrukturiert wurden, wirken in der lebendigen Dramaturgie der Erzählung überzeugender als viele literarische Kunstgewächse. Man kann die Geschichten, die die Herausgeberin gesammelt hat, als privaten Kommentar zum Verlauf der Geschichte in den vergangenen Jahrzehnten lesen – ein Kommentar vor „Randfiguren“, nicht von Akteuren. Der Wert dieser Selbstauskünfte liegt in ihrer Geradlinigkeit und in einer Offenheit, die von keinem Rechtfertigungsinteresse geleitet ist.

Annett Gröschner: „Jeder hat sein Stück Berlin gekriegt. Geschichten vom Prenzlauer Berg“. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1998, 299 Seiten, 14,90 DM