■ Die Entscheidung im Fall Pinochet hat eine Signalwirkung
: Recht der Menschen oder des Stärkeren?

Die Entscheidung der fünf britischen Lordrichter, ob Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet in Großbritannien Immunität genießt oder nicht, ist von weitreichender Bedeutung. Es geht um mehr als nur ein paar Besonderheiten des britischen Immunitätsgesetzes. Die Verteidigung Pinochets hat deutlich gemacht, wer ihrer Meinung nach ebenfalls eine Anklage im Ausland zu fürchten hätte, sollte die Festnahme Pinochets rechtmäßig gewesen sein – verschiedene Mitglieder des Oberhauses wegen ihrer Verantwortlichkeit für Folter und Menschenrechtsverletzungen in Nordirland, Margaret Thatcher wegen der Versenkung des argentinischen Schiffes „Belgrano“ im Falklandkrieg, bei der 600 Menschen starben, und so weiter. Längst haben Exil-Kubaner ihre Chance gewittert und in Spanien eine Anklage gegen Fidel Castro formuliert, Exil-Chinesen, Algerier könnten folgen.

Unabhängig davon, ob die Lordrichter den Argumenten der Pinochet-Verteidiger rechtliche Substanz beimessen, verweisen diese auf das eigentliche Problem, das mit dem Fall Pinochet verbunden ist: Welche politischen Folgen hätte eine Verurteilung Pinochets für die internationale Diplomatie? Aber auch: Welches negative Signal ginge von der Freilassung Pinochets für den internationalen Schutz der Menschenrechte aus? Muß Großbritannien fürchten, zum Schutzhafen für international geächtete Schwerverbrecher zu werden, wenn sie ihre Verbrechen als amtierende Staatschefs begangen haben?

Es ist kein Zufall, daß Lord Gordon Slynn, der Vorsitzende des Ausschusses, mit nahezu tonloser Stimme das Ende der Anhörungen bekanntgab. Ihm ist bewußt, daß die Lords kein zufriedenstellendes Urteil finden können. Folgen sie der Argumentation der Verteidiger, dann kann Pinochet nur im eigenen Land verurteilt werden – was nicht passiert, weil er durch ein Amnestiegesetz geschützt ist – oder durch ein internationales Tribunal. Ob so eines aber zustande kommt, ist keine rechtliche, sondern eine eminent politische Frage, mithin: eine Machtfrage.

Die bisherige internationale Praxis zeigt, daß in der Frage der Menschenrechte und der Ahndung ihrer Verletzung der rechtsstaatliche Gleichheitsgedanke keine Rolle spielt. Angeklagt oder wenigstens lautstark angeprangert werden staatliche Menschenrechtsverletzungen dann, und nur dann, wenn es politisch opportun und durchsetzbar ist – siehe China, Indonesien, Peru und so weiter. Kurz: Die Starken sind geschützt, nur die Schwachen und abgesetzten Diktatoren können vor den Kadi. Das ist ungerecht, aber wahr – und fast unvermeidbar. Solange nicht einmal alle Mitgliedsstaaten des Weltsicherheitsrates sich den Menschenrechten und internationalen Konventionen überzeugend verpflichtet fühlen, wird die Forderung nach Gerechtigkeit für die Opfer immer zweitrangig und politischem Kalkül ausgesetzt bleiben.

Insofern hatten die USA recht, als sie in der Frage der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) dessen Durchsetzungsfähigkeit bezweifelten. Unausgesprochen fügten sie hinzu: Ohne uns kann der ICC nichts machen – und wir können Verbrecher auch ohne ICC vor den Kadi zerren, siehe Panama. Das staatliche Gewaltmonopol, das in funktionierenden Rechtsstaaten auf nationaler Ebene die Durchsetzung von Recht garantieren soll, gibt es international nicht. Und solange mit den übelsten amtierenden Menschenrechtsverletzern Politik und Geschäfte gemacht werden, wird die gelegentliche Verurteilung eines gestürzten Tyrannen immer die Ausnahme bleiben, die an der Regel der Straflosigkeit von Verbrechen nichts ändert.

So haben die Lordrichter eine Entscheidung zu treffen, die weit über ihren Horizont hinaus von Bedeutung ist. Sie entscheiden, ob Pinochet zu den Starken oder den Schwachen zählt. Sie entscheiden, ob es verantwortbar ist, im Namen der Gerechtigkeit von außen den schmalen Kompromiß zu gefährden, aufgrund dessen die chilenischen Militärs der zivilen Macht das Regieren erlauben. Sie entscheiden, ob sich am Primat der Interessenspolitik über die Menschenrechte etwas geändert haben sollte. Bernd Pickert