Schriften zu Zeitschriften
: Wissen macht Spaß

■ 50 Jahre „Sinn und Form“: Zeitlos Aktuelles in einem Sammelband zum Jubiläum

„Sinn und Form“, eine Zeitschrift, deren Rang zu DDR- Zeiten nur noch als Legende bestand, ist – im Sinne einer über den Tag hinausgreifenden Aktualität – längst wieder auf der Höhe der Zeit. Im Dezember 1948 im Zeichen des beginnenden kalten Krieges aus der Taufe gehoben, wurde die Monatsschrift dank der Umsicht ihres langjährigen Chefredakteurs Peter Huchel im Laufe der 50er Jahre zu einer der bedeutendsten europäischen Kulturzeitschriften. Die Geschichte vom Aufstieg der Zeitschrift und ihrem Rückfall in die Inspirationslosigkeit hat Uwe Schoor in seinem Buch „Das geheime Journal der Nation“ bereits 1992 geschrieben. Zum anstehenden Jubiläum hat Sebastian Kleinschmidt, Chefredakteur der Zeitschrift seit 1991, unter dem Titel „Stimme und Spiegel“ nun eine Auswahl aus fünf Jahrzehnten vorgelegt.

Jedes der fünf Kapitel läßt sich einem Leitthema zuordnen. Um Auschwitz kreisen die meisten Beiträge im ersten Kapitel. Den fulminanten Auftakt bildet ein Text von Imre Kertész: „Meine Rede über das Jahrhundert“. Der Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende wehrt sich gegen die nachträgliche begriffliche Vereinnahmung des Holocausts als Ausgeburt des Irrationalismus und fordert den „Willen zum Scheitern“ in der Begegnung mit den Schrecken des Jahrhunderts ein. In einem zweiten Beitrag bekennt der in Paris geborene Literaturwissenschaftler George Steiner im Gespräch mit Ronald A. Sharp seinen Glauben an das „absolut Böse“. Steiner entstammt jener Schicht des gebildeten jüdischen Bürgertums, in der die Kenntnis fast aller europäischen Sprachen und Kulturen zum guten Ton gehörte. Beim Lesen des Beitrags schleicht sich Bedauern ein, daß Bildungschancen in den vergangenen dreißig Jahren ohne Notwendigkeit dem pseudoemanzipatorischen Anspruch geopfert wurden, Lernen müsse Spaß machen. Steiners unausgesprochene Botschaft dagegen heißt: Wissen macht Spaß.

Wie es möglich war, daß eine illustre Reihe bedeutender Intellektueller angesichts des realsozialistischen Jammertals auf die Heilsversprechungen von Ideologien hereinfallen und an ihrer Ausschmückung mitarbeiten konnte, diese Frage drängt sich bei Lektüre des zweiten Kapitels auf. Auch Friedrich Dieckmann berührt in seinem Aufsatz über Bloch dieses Problem und mutmaßt mit Blick auf dessen Verteidigung der Stalinschen Schauprozesse, für Bloch sei es unmöglich gewesen, „sich den Führer des Weltproletariats als einen Mörder-King zu denken“. Daß dies keine Frage des Wissens ist, läßt sich an etlichen damals bekannten Quellen belegen. Wohl ist es eine Frage des Glaubens, dem das theoretische Gebäude Blochs bis in die Sprache hinein verpflichtet ist. Der Messianismus, den Bloch in seinem Aufsatz „Unterschied des Tagtraums vom Nachttraum“ reflektiert, ist keineswegs das einzige religiöse Muster, das in säkularisierter Form im Marxismus und seinen vulgarisierten Varianten wiederauftaucht. Welche Rolle etwa spielte das augustinische „credo quia absurdum“ für den ideellen Werdegang Blochs? „Leben im Widerspruch“, so der Titel von Dieckmanns Aufsatz, ist ein ziemlich mageres Resümee im Hinblick auf eine Biographie, deren Betrachtung einiges über die Verirrungen im 20. Jahrhundert hätte aussagen könnte, wenn sie nicht zur Apologie geraten wäre.

Das dritte Kapitel spürt der Verknüpfung individueller Lebensgeschichte mit den großen historischen Ereignissen im 20. Jahrhundert nach. Im Gespräch, im Porträt oder in der Selbstauskunft entstehen biographische Skizzen u.a. von Christa Wolf, Hartmut Lange und Wilhelm Rudolph. Der Nestor der philosophischen Hermeneutik, Hans-Georg Gadamer, 98jährig in Heidelberg lebend, schreibt über die politische Inkompetenz der Philosophie – natürlich auch mit Blick auf seinen Lehrer Heidegger. Johannes R. Becher formuliert in seinem Text „Selbstzensur“ die Erleichterung nach dem XX. KPdSU-Parteitag, nun endlich über die „Jahrhunderttragödie“ sprechen zu können, die mit dem Namen Stalin verbunden ist, und wiedergutmachen zu können, „was ich durch Schweigen mitverursacht habe“. Ein Jahr später strich Becher den Passus eigenhändig aus den Druckfahnen.

Bei aller angestrebten und praktizierten Offenheit gegenüber anderen Kunstsparten und der Philosophie war es früher die Literatur, die der Zeitschrift ihr spezifisches Gepräge gab. Kleinschmidt setzt als Chefredakteur und als Herausgeber der Jubiläumsanthologie erfolgreich andere Schwerpunkte – im Vordergrund steht der philosophische Essay. Gleichwohl weist die literarische Blütenlese im vierten Kapitel eine beeindruckende Reihe von Autoren aus, von Erich Arendt, Jürgen Becker, Pawel Florenski, Durs Grünbein, Wolfgang Hilbig bis hin zu Heiner Müller. Den Abschluß des Buchs bilden ein Aufsatz von Kleinschmidt, der das Selbstverständnis der Zeitschrift im Herbst 1989 thematisiert, und ein Beitrag von Ferenc Feher und Agnes Heller, in dem sich die Autoren in abenteuerlich optimistischem Tenor mit der problematischen Koexistenz von Demokratie und Kultur auseinandersetzen. Wer sich bis hierhin durch die beinahe sechzig Beiträge der Anthologie durchgekämpft hat, wird die Lektüre nicht bereuen. Da der Herausgeber seine Auswahl dem Prinzip einer stimmigen und nachvollziehbaren Komposition unterworfen hat, fehlt mancher berühmte Name, manch bedeutender Beitrag aus der Frühzeit der Zeitschrift ebenso wie dieser oder jener Ausrutscher. Doch gerade dieses Prinzip macht – gemeinsam mit der zeitlosen Aktualität der Beiträge – die Anthologie zu einem von der ersten bis zur letzten Seite lesenswerten Buch. Peter Walther

„Stimme und Spiegel. Fünf Jahrzehnte Sinn und Form. Eine Auswahl“. Hg. von Sebastian Kleinschmidt. Aufbau Verlag, Berlin 1998, 638 S., 78 DM