Es war einmal bei Füssen...

Deutsche Literatur nach 1945 – das war in der Bundesrepublik durch Autoren wie Heinrich Böll und Günter Grass der Versuch, dem moralischen Bankrott einen Spiegel vorzuhalten. In der DDR stand Literatur fast ganz im Zeichen realsozialistischer Erbauung – von wenigen Experimenten durch Schriftstellerinnen wie Christa Wolf abgesehen, die Realität im Arbeiter-und-Bauern-Staat schonungslos zur Kenntnis zu nehmen. Die Geste des skeptischen Zeigefingers, aber auch die Haltung alarmierter Allzuständigkeit st deril aus der Mode gekommen. Teil IX der Serie „50 Jahre neues Deutschland“  ■ Von Jörg Magenau

Wenn Staaten gegründet werden, ist die Literatur wie der Igel vor dem Hasen immer schon da. Ideen, die staatsförmig werden, deuten sich zuvor in der Literatur an, politische Einheiten besiegeln bloß, was hier schon vor-geschrieben wurde. Oder etwa nicht?

Bei der Gründung der Bundesrepublik war es umgekehrt. Die Teilung Deutschlands ereignete sich als doppelte Konsequenz aus dem Fiasko des deutschen Faschismus und der Blockkonfrontation der Nachkriegszeit. Im Stammland der Idealisten folgten die Ideen nach 1945 brav den Tatsachen – das war die historische Lektion daraus, die Welt dreizehn Jahre lang als Wille und eigene Vorstellung begriffen und erobert zu haben.

Gab es etwa eine „Idee“ der Bundesrepublik, die aus mehr bestand als dem Zufall, welche Regionen des Landes von den Westmächten besetzt gehalten wurden? Gab es eine westdeutsche Kultur, die sich a priori von der ostdeutschen unterschieden hätte? Und was hat Literatur überhaupt mit Gründungstagen von Staaten, mit Landesgrenzen und ihren Jubiläen zu tun?

In diesem Fall: nicht viel.

Am Anfang war das Danach. Die Literatur hatte dreizehn Jahre lang geschwiegen, oder sie befand sich im Exil. „Stunde Null“, sagten die einen, die sich nun nur ans Schweigen erinnern konnten. „Nachkriegszeit“, sagten die anderen, die wußten, daß jeder Anfang seine Geschichte hat und jedes Trümmerfeld einen guten Grund. Hans Erich Nossacks „Der Untergang“ erzählt davon. Der hanseatische Kaufmann mit dem streng nach hinten gekämmten Haar hatte die Jahre des Faschismus im inneren Exil überwintert.

Im Juli 1943 wurde er Zeuge der Bombardierung Hamburgs. „Der Untergang“ schildert protokollartig die Zerstörung der Stadt und erhöht sie gleichzeitig zu einem unausweichlichen Ereignis wie aus der griechischen Tragödie. Das Volk leidet schicksalsergeben. Der Autor ist der große Einzelne, der als unbeteiligter, nüchterner Zeuge neben der Historie steht. Die Trümmer der Stadt, wo geborstene Kloschüsseln über dem Abgrund hängen und Vorhänge durch leere Fensterhöhlen wehen, werden für Nossack zur existentiellen Landschaft des Nichts – eine Sinn- und Daseinslosigkeit, vor der der Einzelne sich zu „bewähren“ hat: Der stoische Existentialismus war die organische Trümmerideologie der Nachkriegszeit.

Standesgemäß hießen Autoren hießen damals noch Dichter. Viele trugen Uniform und standen, fremde Väter, draußen vor zerstörten Türen. Sie machten „Inventur“ – so der Titel eines berühmten Gedichts von Günter Eich – und übten sich in nüchterner Bestandsaufnahme der Dinge und Worte, die noch brauchbar schienen: Kahlschlag. „Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen.“ In der amerikanischen Kriegsgefangenschaft hatten sie Schnellkurse in Demokratie absolviert und schrieben, wie Alfred Andersch, Kommentare und Berichte für die Lagerzeitung. Vielleicht begann hier, fünf Jahre vor der Gründung des Staates, die Literatur der Bundesrepublik.

Oder am 10. Mai 1945, mit Thomas Manns letzter BBC-Rundfunkansprache: voller Hoffnung auf Deutschlands „Rückkehr zur Menschlichkeit“, voller Trauer darüber, daß „Deutschland sie nicht aus eigener Kraft herbeiführen konnte“. Doch Thomas Mann sprach von außerhalb, aus dem amerikanischen Exil. Zur Rückkehr nach Deutschland und zur Entscheidung zwischen Ost und West konnte er sich nicht entschließen. Überhaupt tat man sich im Westen schwer mit den zurückkehrenden Exilanten, denen vorgeworfen wurde, „unser Schicksal nicht geteilt“ zu haben und nun „kluge Ratschläge“ geben zu wollen.

Als Geburtsstunde der Literatur der Bundesrepublik kann da vielleicht eher der 6. September 1947 gelten. Auf Einladung von Hans Werner Richter traf sich eine kleine Gruppe von Autoren – unter ihnen Wolf Dietrich Schnurre, Walter Kolbenhoff und Wolfgang Bächler – im Haus der Dichterin Ilse Schneyder-Lengyel am Bannwaldsee bei Füssen, um die nächste Ausgabe der Zeitschrift Der Skorpion zu diskutieren. Erschienen ist sie nie. Das Papier war knapp, und außerdem verboten die Amerikaner das Projekt wegen „Nihilismus“. Gerade dadurch aber wurde das Treffen zum Initiationsereignis und zum Gründungstag der „Gruppe 47“.

Auch die 47er grenzten sich programmatisch von den Exilanten ab. Sie wollten etwas Neues machen, Literatur ohne Pathos, und fast alle, die in den fünfziger und sechziger Jahren Rang und Namen erwarben, kamen aus ihrem Umkreis: Böll, Grass, Walser, Lenz, Eich, Jens oder Enzensberger. Nicht dazu gehörten die notorischen Einzelgänger: Benn, Nossack, Arno Schmidt, Koeppen.

Letzterer hatte zwar Sympathie für die 47er, erschien aber nie zu Tagungen. Seine Trilogie aus den fünfziger Jahren (“Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“, „Tod in Rom“), beschreibt die Adenauersche Restaurationsära. Es sind Romane über Bonn und das Leben der Spießer und der Funktionäre, die die entstehende Republik aus allerschärfster Nähe betrachten: Literatur der Bundesrepublik und über die Bundesrepublik als junger Staat.

Zum festen Kreis der „47er“ gehörte dagegen die Österreicherin Ilse Aichinger. Sie war 1952, nach Eich und Böll, mit ihrer kunstvollen, rückwärts erzählten „Spiegelgeschichte“ die erste Preisträgerin der Gruppe. Ein Jahr später erhielt die noch unbekannte Ingeborg Bachmann den Preis für ihre Gedichte, 1955 Martin Walser, 1958 Günter Grass, der von Richter als ein Bildhauer und Maler aus Danzig vorgestellt wurde, der auch „etwas geschrieben“ habe: „Die Blechtrommel“.

Die Literatur der Bundesrepublik bildete sich als Literatur eines Sprachraums heraus und nicht eines Staates. Sie beinhaltete wie selbstverständlich Österreich und die Schweiz. Der Anschluß: immer schon vollzogen. Max Frischs Romane und Friedrich Dürrenmatts Theaterstücke gingen großzügig in sämtliche Schulbücher ein, ohne daß ihre Herkunft groß vermerkt worden wäre. Elfriede Jelinek gehörte später ebenso dazu wie der österreichische Österreichhasser Thomas Bernhard, Ernst Jandl oder Peter Bichsel.

Die BRD war irgendwie zu klein für die Literatur. Was an Weltliteratur entstand, weist über ihre Grenzen hinaus. Grass' „Blechtrommel“ erzählt in schnauzbärtiger Tonlage aus dem Danziger Raum. Der Pfeifenraucher Uwe Johnson kam aus der DDR und zog weiter nach New York, London und Sheerness-on-Sea. Dort entstand zwischen 1968 und 1983, Johnsons Todesjahr, sein Opus magnum, die vierbändigen „Jahrestage“ – neben Peter Weiss' „Ästhetik des Widerstands“ sicherlich das Buch der siebziger Jahre.

Der in Schweden lebende Peter Weiss steht exemplarisch für die Politisierung der Literatur in den sechziger und siebziger Jahren. Sein Auschwitz-Oratorium „Die Ermittlung“ – ein Dokumentartheaterstück, das er aus den Materialien des Frankfurter Auschwitz-Prozesses 1965 montierte – repräsentiert die sechziger Jahre so wie Koeppen die fünfziger: Jetzt wird die Erfahrung des Krieges als zentrales Thema durch die Auseinandersetzung mit dem Massenmord an den Juden abgelöst. Die Studentenbewegung etabliert sich nicht zuletzt auf dem Schweigen der Eltern – als radikaler Antifaschismus und Generationenkonflikt.

Damit rückte ab den frühen siebziger Jahren auch die Literatur der DDR näher. Von ihr hatte man sich immer unterschieden, indem man sie entweder als offizielle Literatur eines Staates verstand, als dessen Wunschbild von sich selbst, oder verschlüsselte Botschaft darüber, wie das Leben im Sozialismus so ist. Die DDR gab das notwendige Urbild der Provinzialität ab, denn erst in ihrem Spiegelbild entstand westliche Weltläufigkeit.

Die Systemkonkurrenz der Staaten spiegelte sich in einem nie ausgesprochenen und doch spürbaren Wettbewerb der Literaturen. Der Nobelpreis für Heinrich Böll 1972, der Willy Brandts Friedensnobelpreis kulturell flankierte, war so etwas wie eine gewonnene Fußballweltmeisterschaft und bedeutete die Wiederaufnahme in die Weltgemeinschaft. Christa Wolf, eine Art Heinrich Böll des Ostens, schaffte, obwohl in den achtziger Jahren permanent als Nobelpreiskandidatin gehandelt, Vergleichbares nicht. Die Wende und die Abrechnung mit der plötzlich als „Staatsdichterin“ diffamierten Autorin beendete diese Hoffnung.

Doch gleichzeitig verschwand auch Heinrich Böll in den Tiefen der Geschichte. Er, das „gute Gewissen der Nation“, die personifizierte Bundesrepublik, ist heute fast völlig vergessen. In einer vor wenigen Monaten erstellten Kritikerumfrage zu den hundert wichtigsten deutschsprachigen Romanen des Jahrhunderts wurde keines seiner Bücher genannt. Dabei prägte er doch fast vierzig Jahre lang die Literatur der BRD. Er war ein typischer Vertreter der Nachkriegsliteratur der Kriegsheimkehrer, einer der moralischen Erneuerung, die – etwa in „Ansichten eines Clowns“ – auch experimentelle Züge annahm. Als Kölner ist er Vertreter des rheinischen Zentrums der Republik, als Katholik ihrer humanistischen, religiösen Grundlage. In seinem Engagement für „Menschenrechte“ setzte er sich für bedrohte Autoren Osteuropas ein – legendär seine Freundschaft mit Solschenizyn.

Die Linke betrachtete diese grenzüberschreitende Solidarität mit Skepsis und warf Böll vor, sich im Kalten Krieg antikommunistisch instrumentalisieren zu lassen. Bei den Rechten galt er – seit „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ und dem Artikel „Freies Geleit für Ulrike Meinhof“ – als Sympathisant der RAF. Anfang der achtziger Jahre dann demonstrierte er gegen den Nato-Doppelbeschluß – von Politikern beschimpft, von der Friedensbewegung verehrt.

Ist Böll vielleicht deshalb so vergessen, weil es keine Linken und keine Rechten mehr gibt, die ihn dafür lieben und hassen könnten? Weil im Zeitalter des Pragmatismus Moral aus der Mode gekommen scheint? Schade eigentlich: Mit Böll hätte man die ganze Bundesrepublik in einer einzigen Biografie beisammen, aber scheinbar interessiert sich niemand mehr dafür. Sein Leben ist bloß noch Geschichte, so wie die Bundesrepublik selbst längst Geschichte geworden ist – allerdings ohne es recht bemerkt zu haben.

Jörg Magenau, 37, Literaturredakteur der taz, geboren in Ludwigsburg, lebt in Berlin. Sein erstes prägendes Buch las er als Achtjähriger: Grischka und der Bär