Fitneß & Lyrik

Der Genius kam als Totgeburt zur Welt, jedenfalls war er dunkel angelaufen und gab nicht einen Mucks von sich. Die Nabelschnur war dem Säugling um den Hals geschlungen, mutmaßte der große Dichter später selbst. Nur durch Tätscheln, Schütteln und gutes Zureden kam das arme Wurm überhaupt zu sich – und der Frankfurter Stadtschultheiß Johann Caspar Goethe im August 1749 zu einem Sohn, Johann Wolfgang.

Bis zu seinem Ableben im März 1832 war der nicht weniger als siebenmal vom Tode bedroht, als Siebenjähriger durch die Pocken, mit neunzehn wegen eines ominösen Blutsturzes. Zeitlebens mied er Kranke und stürzte sich in Fitneß und Kuren. Panische Angst vor der Syphilis und Depressionen werden ihm nachgesagt. Der Autor berichtet von Suizidgedanken: Auf seinem Studentenlager hielt er sich abends des öfteren einen Dolch auf die Brust, ohne aber den Mut zum Stoß zu finden.

Sterben mußte ein anderer: der „junge Werther“. Seine Leiden wurden ein Pop-Ereignis, Goethe über Nacht prominent und von seinen düsteren Gedanken geheilt. Man bestellte ihn zu Hofe, bettete ihn sanft in Zuwendungen, Amt und Würden. Die Schickeria von Adel und Bürgertum lauschte ihm. „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Die Wahlverwandtschaften“ gehörten zum Kanon. Sein wohl bekanntestes Werk, das Drama „Faust“, beschäftigte Goethe sein ganzes Leben lang.

Schon 1775 schloß er das Manuskript zum „Urfaust“ ab. Erst 1790 veröffentlichte er „Faust I“. Posthum wurde „Faust II“ gedruckt, den Goethe 1831 als die Quintessenz seines lebenslangen Ringens um Erkenntnis und Liebesglück verstand. Auch andere Dramen wie „Iphigenie auf Tauris“ und „Stella“ waren europaweit bekannt. Das Weimarer Theater spielte sie unter seiner Direktion, dem mittlerweile geadelteten Johann Wolfgang von Goethe.

Sein Werk sah er als „Bruchstücke einer großen Konfession“, in der er jede persönliche Erfahrung „in ein Bild, ein Gedicht“ umsetzen wollte. Als unmittelbarste Ausdrucksform war ihm die Lyrik besonders wichtig. Hier ist am deutlichsten der Einfluß von Liebschaften, Lieben und Affären auf sein Schreiben zu erkennen. Von Jugendschwarm Friederike Brion („Heidenröslein“) über Ehefrau Christiane („Gefunden“) bis zu seiner letzten Schwärmerei, Ulrike von Levetzow, schlagen sich die Frauen aus Goethes Leben in seiner Lyrik nieder. Diese war sinnlicher und weniger an der Antike orientiert als die des großen Dichterkonkurrenten und Kumpels Friedrich von Schiller, den Goethe bespitzelte, möglicherweise liebte, jedenfalls aber um ein Vierteljahrhundert überlebte. Stefan Schmitt