Große Recyclinggefühle

■ Jetzt mit noch mehr Binsenweisheiten: „Angel Express“ von Rolf Peter Kahl verkauft die üblichen Sehnsüchte als Pulsschlag der Zeit

Lebensgefühl, so darf man befürchten, wird von jungen Menschen getragen. Von solchen, die ihr spärliches Geld in Musik und Mode tauschen. Leute, die vor angesagten Clubs zu frieren, in denselben ihre Ohren mit Baßexplosionen und ihr Nervensystem mit Massaker-Chemikalien zu malträtieren bereit sind. Lebensgefühl, so kann man behaupten, verkauft sich gut. Produkte, Dienstleistungen und Unterhaltung lechzen geradezu nach seinem Dunstkreis. Als Summe von Haltungen und Handlungen verleiht es Attribute wie „in“ und „hip“ und wer weiß was, nichts ist verkaufsfördernder. Nicht daß hier Ursache und Wirkung zu trennen wären, wie die gesamte Popkultur ist natürlich auch ihr Brennpunkt ein Selbstbestäubungs-Perpetuum, das nach außen abstrahlt. Nach außen, in Werke wie „Angel Express“ von Rolf Peter Kahl, einem „Großstadtfilm“, der sich vornimmt, das „Lebensgefühl der 90er Jahre“ zu zeigen.

Die Kulisse ist ein größtenteils nächtliches Berlin, die Handelnden sind Subprominente der Marke „Die hab' ich doch schon mal in ,Helicops' gesehen“. Durch Verzicht auf Handlung, Spannungsbögen und Identifikationsfiguren wird Abstand geschaffen zum konventionellen Kino – Schnickschnack hat Autor, Regisseur und Produzent Kahl nicht nötig. Seine Aussage ist denkbar einfach: Am Ende des Jahrzehnts, in dem uns endgültig der Sinn abhanden gekommen ist, haben die Menschen kein Ziel mehr, nur noch eine Sehnsucht, die nach dem Kick.

Nun ist diese Feststellung so banal, weil längst eine Binsenweisheit, wie ihre Richtigkeit unüberprüfbar ist. Was sich anschließt, ist die Frage nach der Gestalt des Kicks. Wie und warum ist er zu finden? So oder ähnlich schien die Versuchsanordnung für „Angel Express“ zu lauten. Ein gutes Dutzend Menschen, noch oder nicht mehr jugendlich, jagen durch scheinbar unzusammenhängende Szenen: Ein Teenager springt vom Dach; eine Fotografin sammelt Männer; eine Clique clubbt und kokst die ganze Nacht; ein Casting-Groupie schläft sich zu einer Filmrolle empor; und ein erfolgloser Exzentriker spielt russisches Roulette. Als roter Faden dient ein Revolver, der sich in wechselnden Händen durch den Film zieht. Das wirklich verbindende Element aber ist der Soundtrack, ein Teppich aus Elektro und Drum&Bass. Der Sound der Neunziger ist keine Melodie, sondern ein Rhythmus – auch das eine Binsenweisheit.

Trotz ein paar schöner, kalter Bilder und angemessener Musik sagt „Angel Express“ weniger über das Lebensgefühl der Neunziger als über die Sehnsüchte der Macher aus: frei verfügbarer Sex, Momente der Macht über Menschen, das immer lockende Macho-Kribbeln des Erfolgs. Diese Kicks sind Anachronismen, oder besser: zeitlose Basics menschlicher Begierde, „Angel Express“ kleidet sie nur in ein Gewand aus Zeitgeist-Recycling. Was bleibt, ist ein Up-date der Allgemeingültigkeit. Lebensgefühl, so darf man befürchten, wird von nicht mehr ausreichend jungen Menschen verbreitet.

Stefan Schmitt

„Angel Express“, Regie: Rolf Peter Kahl. Mit Ulrike Panse, Chris Hohenester u.a., D 1999, 85 Min.