„Das Gefühl, wichtig zu sein“

Das sogenannte Münchhausensyndrom ist ein psychisches Krankheitsbild. Es bezieht sich auf Menschen, die sich körperliche Krankheiten einbilden und sie vortäuschen. Es handelt sich dabei nicht um eine kurzlebige oder einmalige Simulation.

Armin Schmidtke, leitender Psychologe an der Uniklinik Würzburg, erforscht dieses Syndrom seit mehr als fünf Jahren und legt Wert auf die Unterscheidung zwischen psychischer und körperlicher Störung. Das Krankheitsbild könne beides zur Folge haben: eine eingebildete oder eine selbstverursachte physische Krankheit. Ein Patient kann also durch Einbildung den Eindruck einer Erkrankung hervorrufen oder dadurch, daß er seinen Körper verletzt. Schmidtke: „Die Handlung des Kranken ist stets absichtlich, intelligent und bewußt.

Die Münchhausenpatienten ahmen Krankheiten so täuschend echt nach, daß die meisten Ärzte darauf hereinfallen. Selbstzugefügte Schnittverletzungen, Schürfwunden und Blutungen oder Injektion giftiger Substanzen –

in zehn bis fünfzehn Prozent der Fälle soll die Selbstverletzung

tödlich enden. Aber Schmidtke schränkt ein: „Genaue Zahlen haben wir nicht.“

Erstmals beschrieben wurde die Krankheit 1951 von dem amerikanischen Arzt R. Asher, der sie

„Munchhausen Syndrome“ nannte. In Deutschland kann man eine besondere Ausprägung der Krankheit beobachten: „Sehr viele der Kranken kommen selbst aus Pflegeberufen“, berichtet Psychologe Schmidtke, „das sind rund siebzig Prozent der Gesamtfälle.“ Diese Kranken seien in der Regel sehr intelligent und emotional stabil.

Ihre Motivation ist ungeklärt. „Wir können keinen gemeinsamen Auslöser ausmachen“, sagt Schmidtke. „Irgendwie ist das ein Selbstzweck.“ Es läßt sich aber feststellen, daß viele der Patienten aus schwierigen Familien stammen. Und: Münchhausen-Patienten haben nur wenige soziale Kontakte. Die angebliche Krankheit soll die Aufmerksamkeit und Hilfe erzwingen, die sie als Gesunder entbehren müssen.

Besonders bei den vielen Münchhausenpatienten, die aus Pflegeberufen kommen, spielt der Wunsch mit, einmal selbst im Mittelpunkt der medizinischen Fürsorge zu stehen. Dazu kommt das Gefühl, wichtig zu sein, wenn man medizinischen Koryphäen Rätsel aufgibt. Schmidtke: „Das Spiel mit dem Doktor ist: Wer ist schlauer?“

Heilungschancen? „Die Therapieprognosen sind nicht besonders günstig“, so Schmidtke. Das liegt auch nach Meinung anderer Mediziner daran, daß man die Patienten mit ihrer Krankheit noch wie mit einer Lüge konfrontiere. Erfolgversprechend scheint es zu sein, die Münchhausenpatienten langsam aus ihrer (imaginierten) Krankheit herauszubegleiten und ihnen Mut zu machen, wie andere Menschen auch damit zu leben, nicht immer alle Aufmerksamkeit zu erhalten, die sie zu verdienen glauben. Stefan Schmitt