■ „Wo sind meine Söhne?“ war die bange Frage, mit der Shaqir Kokollari in das Kosovo aufbrach. Was er dort vorfand, traut er sich nicht seiner Familie im Lager zu erzählen  Von Philipp Maußhardt (Text) und Mike Schmalz (Fotos)
: Die Angst vor der Rückkehr

Wie gut, daß es regnet. Wie gut, daß die Fensterscheiben unseres Wagens beschlagen sind und wir nur die Straße vor uns, nichts aber von dem, was rechts und links von ihr liegt, sehen können. An zerstörten Häusern. An ausgebrannten Ruinen. „Das meint der Himmel gut mit uns“, sagt Shaqir Kokollari. Nicht alles auf einmal sehen müssen. Nicht alles gleich an diesem ersten Tag.

Wir haben Shaqir Kokallari in einem Flüchtlingslager in Kukäs getroffen. Und wir haben den 52jährigen über die Grenze mitgenommen. Er sucht seine drei ältesten Söhne. „Mein Gott, hoffentlich leben sie noch!“ sagt er.

Als Kokollari am 2. Juni nach Albanien floh, saßen zwei von ihnen in Prizren im Gefängnis. Den 18jährigen Sedat hatten die Serben dagegen erst an diesem Tag vom Traktor herunter verhaftet und mit sieben anderen Jungen abgeführt. Das ist das letzte Bild, daß Kokollari von ihm vor Augen hat: „Wie sie ihn abführen in Richtung Suva Reka, den jungen Bengel.“

Der junge Bengel. Shaqir Kokollari spricht Deutsch mit niedersächsischem Akzent. Es „regnet Kartoffeln“ sagt er, und seine Söhne nennt er „Bengel“. Es färbt ab, wenn man fast dreißig Jahre in Hannover gelebt hat. Allein ist er dort gewesen, und was er bei der Baufirma verdiente, das hat er in den Ferien hinunter nach Savrova gebracht, damit seine Frau, die vier Bengels und die fünf Töchter besser leben und den kleinen Bauernhof in Schuß halten konnten.

Das letzte Mal fuhr Shaqir Kokollari an Weihnachten 1998 ins Kosovo. Seither hat er sich in seiner Firma nicht mehr blicken lassen. Es fuhr nicht mehr zurück, denn damals saßen zwei seiner Söhne, der 27jährige Ramadan und der 26 Jahre alte Nexhat, schon im Gefängnis in Prizren. Man hatte sie in Savrova verhaftet, ein Grund wurde nicht angegeben. Vielleicht war es, weil jemand mit weißer Farbe auf die Mauer des kleinen Gehöfts „Republik Kosova“ gepinselt hatte .

Anfangs durfte ihr Vater sie noch ab und zu besuchen und ihnen Essen zustecken. An ihren geschwollenen Gesichtern sah er, daß man sie geschlagen hatte. Immer wieder kamen die Serben ins Dorf. Mal drohten sie nur, mal machten sie ernst. Shakir Kokollari suchte mit dem Rest seiner Familie einige Wochen in die Wälder Schutz. Als er zurückkam war eines seiner beiden Häuser abgebrannt. Sie flohen nach Albanien.

Nun steht Shaqir Kokollari wieder vor dem Gefängnis von Prizren. Doch die Türe ist abgeschlossen und niemand zu sehen. Die Serben sind weg, und mit ihnen die Gefangenen. Nur 15 Kosovaren waren noch in den Zellen, als der Bundeswehrmajor Helmut Schäfer vor einer Woche mit seinen Soldaten das Gefängnis betrat. Fünfzehn von mehreren hundert. Was aus den anderen wurde, weiß bislang keiner. Man habe sie nach Serbien verschleppt, sagen manche. Man habe sie umgebracht, sagen andere. Wir wissen es nicht, sagt der Presseoffizier der Bundeswehr.

„Hast du meine Söhne gesehen?“ fragt Kokollari einen Mann, der vor dem Gefängnis steht. Er stellt die Frage oft an diesem Tag. Dem UÇK-Kommandanten, den Shaqir im Hauptquartier der Untergrundarmee in Prizren zufällig auf dem Flur trifft. Doch ohne zu antworten läuft er vorbei. Dem Offizier, der beim Stab der Bundeswehr vor dem Eingang steht. Und jedem Menschen, den er unterwegs nach Savrova, seinem Heimatdorf am Wege trifft. Es ist seine letzte Hoffnung, daß sie vielleicht schon zu Hause sind. Eine Schotterstraße führt nach Savrova. Davor liegt Sopina, ein Dorf, in dem Serben und Albaner einmal gemeinsam lebten. „Wenn die gefeiert haben, sind wir gekommen, und wenn wir gefeiert haben, die.“ Aus manchen Ruinen qualmt es noch. Die Serben haben bei ihrem Abzug auch die eigenen Häuser angesteckt. Damit nichts mehr übrig ist.

Ein ausgemergelter alter Mann hält uns an und fällt uns um den Hals. Drei Monate hat er im Wald gelebt. Vom Salz, das er in seiner Hosentasche hatte und von Wurzeln und Gräser. „Warum kommt ihr Deutschen erst jetzt?“ Vor Savrova hütet ein Mann eine Kuh. Es ist ein Nachbar von Shaqir. Stumme Umarmungen. Dann reden sie eine Weile auf albanisch und weinen. Der Kuhhirte erzählt Shaqir Kokollari, wie es weiterging, nach dessen Flucht am 2. Juni. Gleich nachdem der Flüchtlingstreck das Dorf verlassen hatte, waren vier zurückgehaltene junge Männer an den Dorfbach geführt und erschossen worden: Agimi, Alushi, Imeri und Gjevati. Auch Shaqirs Sohn Sedat, der etwas später auf der Straße nach Prizren von serbischen Militärs vom Traktor geholt worden war, wurde mit sechs anderen jungen Männern auf einem Feldweg hinunter zum Wasser geführt. Der Mann spricht nicht weiter.

Shaqirs Kokollaris kleines Gehöft liegt am Rande von Savrova. Seine Schwester Shyret hat den Motor unseres Wagens gehört und kommt herausgelaufen. Sie kann nicht sprechen, zitternd klammert sie sich an ihren Bruder und weint hemmungslos. Was von den beiden Häusern übrig ist, sind schwarze Löcher. Dreißig Jahre Arbeit in Deutschland – aufgegangen in Rauch. Kein einziges Möbelstück ist mehr vorhanden. Hinter einer Mauer kommt ängstlich der 15jährige Bashkim hervor, Sohn der Schwester. In der ganzen Zeit, in der wir die Trümmer besichtigen, redet Shaqir kein Wort. Niemand weiß etwas von seinen Söhnen.

Auf der Rückfahrt nach Kukäs starrt Shakir Kokollari lange aus dem Fenster. „Die Dächer kann man wieder decken“, sagt er schließlich, „und die Wände wieder streichen. Das ist nicht das Schlimmste.“ Er hätte so gern der wartenden Familie im Lager eine gute Nachricht mitgebracht.

Bevor Shaqir Kokollari ins Camp zurückkehrt, gehen wir noch in ein Restaurant unterhalb des Flüchtlingscamps an einem See. Fisch hat es gegeben, und Shaqir Kokollari hat ihn ohne Appetit gegessen. Unser albanischer Fahrer aus Kukäs plappert über Mercedes-Preise und darüber, daß Zigaretten in Prizren teurer sind als in Kukäs. Ein Wort des Mitgefühls über die Lage seines Landsmann kommt ihm den ganzen Tag nicht über die Lippen. Auch darum wollen so viele Kosovaren, so schnell es geht, zurück.

Es ist schon dunkel, als wir schließlich das Zelt betreten. Die drei kleinen Kinder seiner Söhne schlafen schon auf den Decken, doch die Erwachsenen haben ungeduldig auf Shaqir gewartet. Eine Kerze leuchtet in die angespannten Gesichter seiner Schwiegertöchter, seiner Töchter, seiner Eltern und seiner Frau. Und weil er sich hinsetzt und erst einmal nur schweigt, ahnen sie, was los ist.

In den Nachbarzelten hat man unsere Rückkehr mitbekommen. Die meisten sind aus der Umgebung von Savrova. Sie kommen herein und setzen sich still auf den Boden. Weil außer uns niemand Deutsch versteht, sagt Shaqir zu uns: „Ich kann es ihnen nicht erzählen. Sie werden es noch früh genug erfahren.“

„Ich kann es ihnen nicht erzählen. Sie werden es noch früh genug erfahren“, sagt Shaqir bei seiner Rückkehr ins Lager