„Kurz und gut, ich sterbe“

■ Ruth Picardie beschreibt ihren kommenden Tod in nüchternen E-Mails an die Welt

„Du bist zweiunddreißig, wiegst zehn Kilo zuviel und bist nie über deine Schweinsäuglein weggekommen, aber sonst ist das Leben eigentlich ganz prima“, begann vor zwei Jahren am 22. Juni ein Artikel in der englischen Zeitung Observer. Keine zwanzig Zeilen später heißt es plötzlich und unvermittelt: „Dieser Knoten in deiner linken Brust ist in Wirklichkeit Krebs. Es handelt sich um Krebs im dritten Stadium, und dir bleibt nur eine 50:50-Chance, die kommenden fünf Jahre zu überleben.“ Die Autorin hieß Ruth Picardie, war 33 Jahre alt, Journalistin und Mutter von Zwillingen. „Bevor ich Lebewohl sage“ nannte sie ihre Kolumnen im Observer, die in England für großes Aufsehen sorgten.

Mehr als fünf sollten es allerdings nicht werden. Picardie starb im Herbst 1997. Ihre Schwester und ihr Mann haben ein Buch über Ruths Sterben herausgegeben. Um die fünf Zeitungskolumnen herum sind da E-Mails abgedruckt, die Ruth an Freunde in Vietnam, New York oder um die Ecke schickte. Deren Antworten darauf und Leserbriefe zu Ruths Observer-Artikeln geben dem Buch einen Dialogcharakter. Es wurde in England wie andernorts viel diskutiert und besprochen: Hier schrieb jemand über sein Sterben, nicht darum herum. Es gibt keine Dramaturgie im Buch außer dem körperlichen Verfall, keine überraschenden Wendungen, keine verklärte Familienidylle.

„Nun, jetzt ist es offiziell“, stellt Picardie nüchtern fest, als ein Hirntumor und Metastasen in Leber und Lunge festgestellt werden. „Kurz und gut, ich sterbe.“ Ein ziemlich unangenehmer Tod, viel zu früh und rasend schnell. Hoffnung auf Rettung gibt es nicht mehr, die Idee vom Leben nach dem Tod scheint Ruth abwegig.

Keine schematisch nachvollziehbaren Phasen des Sich-in-sein-Schicksal-Fügens, wie man es aus Außenbetrachtungen à la Kübler-Ross kennt. Picardie gibt ihre störrische Haltung nie auf. Deswegen ist „Ich werde es vermissen, das Leben“ lesenswert. In ihrer letzten Kolumne, rund einen Monat vor ihrem Tod, schreibt sie halb ernst, halb sarkastisch: „Zehn Monate nach der Diagnose bin ich überzeugt, tatsächlich schwanger zu sein. Das Erbrechen, das unheimliche Zeug, das da drinnen heranwächst, das endlose Warten auf den großen Tag.“

Doch anders als eine Schwangerschaft nimmt der nahende Tod Picardie die Möglichkeit der Projektion in die Zukunft – sie hat keine mehr. Selten blickt sie in den Kolumnen und E-Mails ins Gestern zurück. Was bleibt sind kleine Momente Gegenwart, wie ein Wochenende auf dem Land oder ein besonders leckeres Sandwich.

Den Tod begreift die Atheistin Picardie nicht als „fort sein“, sondern als „überhaupt nicht mehr sein“. Selbst die tröstliche Vorstellung des Fortlebens durch ein Zurücklassen genetischen Materials bekommt Risse: Ihre Kinder sind kaum zwei Jahre alt, Ruth kann ihnen nur sogenannte Erinnerungskästchen für später basteln – eine Flaschenpost aus dem Totenreich, von einer Mutter, die sie nicht kennen werden.

Ruths Geist, der Idee des Morgen bestohlen, kreist um die Gegenwart. Mit dem Schicksal hadern, sich verzweifelt an den kleinen Freuden des Tages festklammern, ohne Gewissensbisse richtig gemein sein – die Stimmung der Autorin schwankt, ihre Sprache nicht. Picardies Stil ist leicht, etwas distanziert, fast flapsig. Es sind keine Tagebuchtexte, sondern eine Sammlung von Haltungen, die Picardie in die Welt geschickt hat: in die kleine Öffentlichkeit des E-Mail-Freundeskreises und in die größere der Zeitungsleser. Stefan Schmitt ‚/B‘Ruth Picardie: „Es wird mir fehlen, das Leben“. Deutsch von Kim Schwaner. Wunderlich Verlag 1999. 176 S., 29,80 DM