Lob für Schwedens Sozialstaat

Sattes Wachstum, volle Staatskassen und wenig Erwerbslose – obwohl die Stockholmer Regierung einige neoliberale Rezepte bewusst ignoriert hat  ■   Von Reinhard Wolff

Stockholm (taz) – „Die meisten Wirtschaftskennziffern zeigen in eine Richtung, die deutlich über dem Durchschnitt liegt.“ So beginnt die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ihren neuen Jahresbericht über Schweden: „Die schwedische Wirtschaft ist in besserer Balance als je zuvor in den letzten zehn Jahren.“ 177 Seiten, die man sich nahezu ohne Ausnahme hinter den Regierungsschreibtischen in Stockholm wie Butter auf der Zunge zergehen lassen kann.

Lange ist's her, dass man von der OECD so gelobt wurde: Ein gutes Wachstum, niedrige Inflation, Budgetüberschuss, geringe Arbeitslosenrate, ein Pensionssystem, das nicht auf Kosten künftiger Generationen finanziert wird, und weiterer Lorbeer für das Sozialsystem. Die SchwedInnen reiben sich verwundert die Augen, scheint doch dieser Beifall gar nicht zu den Erfahrungen zu passen, die sie selbst alltäglich machen. Und schon gar nicht zu dem Bild, das ihnen Presse und Fernsehen liefern: Lange Wartezeiten in der Krankenversorgung, stetig neue Klagen des Altenpflegepersonals über unmenschliche Arbeitsbedingungen, teurere Arzneimittel und Zahnversorgung und noch mehr Klassen mit über dreißig SchülerInnen.

An den SchwedInnen ist nicht unbemerkt vorbeigegangen, wie kräftig sie haben abspecken müssen von ihrem einst gewohnten Niveau, das weit über dem Europa-Durchschnitt lag. Die OECD-Zahlen zeigen deshalb so deutlich aufwärts, weil's fast ein Jahrzehnt bergab ging. Nunmehr fällt alles eine Nummer kleiner aus als zu den Hochzeiten des Wohlfahrtsstaats.

Die sozialdemokratische Regierung war nach den Wahlen im Herbst vergangenen Jahres tatsächlich darangegangen, einen Großteil ihrer Wahlversprechen einzulösen. Kinder- und Arbeitslosengeld, Renten und Wohngeld wurden wieder aufgestockt. Wohlgefüllte Haushaltskassen nutzte man, um mit der Schließung der schlimmsten Personallücken in der Kranken- und Altersfürsorge zu beginnen. Bis sich dies in der Alltagserfahrung der SchwedInnen niederschlägt, werden aber noch Monate vergehen.

Zu rigoros war der vorangegangene personelle Kahlschlag, zu viel Personal wurde aus dem Kranken- und Altenpflegesektor in die skandinavischen Nachbarländer abgedrängt, die bessere Arbeitsbedingungen bieten konnten.

Doch dass sich etwas tut, zeigen am Deutlichsten die Arbeitslosenzahlen, die laut OECD-Prognose in diesem Jahr auf einen Durchschnitt von 5,6 Prozent sinken werden, im kommenden Jahr auf runde 5 Prozent. Die Regierung hofft sogar auf eine 4 vor dem Komma.

In einzelnen Servicebranchen ist der Arbeitsmarkt schon jetzt leer gefegt, Ärzte importiert man mittlerweile aus Spanien. Erreicht hat Schweden dieses vergleichsweise niedrige Arbeitslosenniveau, obwohl – oder weil – man sich nicht an die von der OECD in der Vergangenheit vorgeschlagenen Rezepte gehalten hat.

Was diese auch prompt kritisiert: Man hatte empfohlen, das Niveau der Arbeitslosenversicherung deutlich zu senken und den Anstellungsschutz im Arbeitsrecht aufzuweichen, um den Arbeitsmarkt „flexibler“ zu machen. Diesen Weg schlug man in Stockholm aber gar nicht oder nur sehr vorsichtig ein. Für eine entscheidende Lockerung der strengen Kündigungsschutzregeln des schwedischen Arbeitsrechts war mangels politischer Mehrheiten im Parlament kein Raum. Und in der Arbeitslosenpolitik glaubte und glaubt man, bessere Rezepte zu haben als die OECD. Welche allerdings – da recht teuer – nur funktionieren, weil die Arbeitslosenversicherung im Wesentlichen direkt aus dem staatlichen Steuertopf finanziert wird.

Für die öffentlichen Kassen macht es also nahezu keinen Unterschied, ob Sozial- oder Arbeitslosenhilfe gezahlt wird. Arbeitslose SchwedInnen sind deshalb nicht lange in der entsprechenden Statistik verzeichnet. Sie geraten normalerweise recht schnell in eine „Maßnahme“, sei es eine Weiterbildung, Umschulung, Projektarbeit, Probeanstellung oder eine Art ABM. Dies nicht nur ein- oder zweimal, sondern in einem Kreislauf öffentlich finanzierter Ersatzarbeit oder -ausbildung, der sich zumindest drei Jahre lang dreht. Nur wer sich gerade nicht oder nicht mehr in diesem Kreislauf befindet, landet als Arbeitsloser in der Statistik. Was zum Einen bedeutet, dass die tatsächliche Arbeitslosenrate in Schweden rund 50 Prozent höher liegt, als die Statistik sagt – eigentlich mithin bei rund 8 Prozent. Zum Anderen ließ sich in diesem System bewerkstelligen, dass eine Vielzahl von Arbeitslosen das Konjunkturloch beschäftigt überstanden und oft sinnvoll umgeschult werden konnten.

Natürlich gibt es Schattenseiten. Vor allem ältere Arbeitslose und solche mit ausländischem Hintergrund drehen sich in einem oft als sinnlos empfundenen Umschulungs- und Beschäftigungskarussell ohne tatsächliche Perspektive. Es wird viel Missbrauch mit den öffentlichen Hilfegeldern getrieben, und der Sturz aus der Arbeitslosen- in die Sozialhilfe ist tiefer geworden. Gerade bei den Schwächsten wurde am meisten gespart. Die binnen vier Jahren verzehnfachte Zahl von Benutzern der Suppenküchen von Heilsarmee und Kirchen beweisen dies.

Der starr auf die Arbeitslosenstatistik konzentrierte Blick ging auch zu Lasten der Strukturpolitik. Eine neue ländliche Entvölkerungswelle hat eingesetzt. Wer nicht „flexibel“ ist, also in die Städte zieht, wo es Arbeitsplätze gibt, gilt schnell als nicht vermittelbar. So hielt es Finanzminister Bosse Ringholm auch für angebracht, den OECD-Bericht als erfreulich zu begrüßen, sich aber nicht auf den Lorbeeren auszuruhen: „Die große Herausforderung für die Wirtschaftspolitik ist, die positive wirtschaftliche Entwicklung dauerhaft zu verankern und sich auf alle Teile Schwedens ausbreiten zu lassen.“

Ob der verschlankte Wohlfahrtsstaat wirklich so krisenfest wird, wie die SozialdemokratInnen hoffen, wird erst die Zukunft zeigen. Doch auch an Sozialstaatszweifler wie Tony Blair richtet sich die Einschätzung von Ministerpräsident Göran Persson, diesen nicht als Wundertüte, sondern als Wachstumsfaktor zu begreifen: „Das wesentliche Element des Sozialstaats ist die soziale Sicherheit. Sie ist ein wichtiger Wachstumsfaktor. Denn keine Angst vor der Zukunft haben zu müssen ist eine gute Basis für größere Risikobereitschaft.“