Einen Bürger gibt es hier nicht

Standort Deutschland (1): Die Stadt Anklam in Mecklenburg-Vorpommern hat trotz Zuckerrüben und Biberburgen eine Arbeitslosenquote von 25 Prozent. Vorbei auch die Zeiten, in denen Frank Castorf als junger Wilder die Theaterklassiker zertrümmerte  ■   Von Thomas Sakschewski

Wolfgang Stifft sitzt in seinem Büro mit brauner Ledergarnitur und Couchtisch, Eiche furniert. An der Wand hängt eine Landkarte Mecklenburg-Vorpommerns. „Anklam“, sagt er, „liegt besonders ungünstig.“ Das sehe man schon auf der Karte, denn Anklam liegt am nordöstlichen Rand der Bundesrepublik. Ein Landstrich, geprägt von Zuckerrübenfeldern und Moorgebieten. Bis voriges Jahr bildete Ostvorpommern mit einer Erwerbslosenrate von 30 Prozent das Schlusslicht in Mecklenburg-Vorpommern. Jetzt sind es nur noch 25 Prozent. Anklam, die Kreisstadt Ostvorpommerns, zählte im letzten Jahr gerade einmal 16.500 Einwohner. Tendenz fallend. Wer jung ist und Arbeit sucht, geht.

Die sich am Kiosk in der Hauptstraße Tag für Tag treffen, gehen nicht, und über die fünfprozentige Verringerung der Arbeitslosigkeit diskutieren sie auch nicht. Geredet wird sowieso sehr wenig. Hier in Ostvorpommern. Die schmalen Fensterluken der Trinkhalle sind zugestellt mit Miniflaschen der Marken Kleiner Feigling und Goldkrone. Als wäre selbst das Trinken noch Arbeit, warten sie hier beharrlich das Ende des Tages ab. Ihre Chancen sind gering, einen der neuen Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich zu ergattern. In Anklam besteht die neue Dienstleistungsgesellschaft aus dem Call Center einer privaten Telefonauskunft, bedeutet Beschäftigung eine Stelle als Verkäuferin in einem neuen Einkaufszentrum in der Stadtmitte oder als saisonale Arbeitskraft in den Hotels der Ostseebäder. Das ist nicht viel, und Wolfgang Stifft macht sich nach neun Jahren im Amt keine Illusionen mehr: „So stochern wir uns von einem Arbeitsplatz zum anderen. Wir versuchen Werbung zu machen, wir versuchen uns auf der Messe darzustellen. Wir begleiten jeden, der bei uns mal nachfragt. Es ist eben halt nur in kleinen Schritten zu machen.“ Der größte Arbeitgeber im Kreis ist noch immer die Verwaltung. Daran haben die Anstrengungen des Bürgermeisters nichts ändern können.

Die LPGs, die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, sind größtenteils aufgelöst. Die weitergemacht haben, brauchen nur noch einen Bruchteil des Personals. Kartoffeln und Zuckerrüben werden hier angebaut. Deshalb war es ein kleiner wichtiger Schritt, die Zuckerraffinerie zu erhalten. Silbrig glänzt das Silo der Zuckerfabrik Fritz Reuter am Stadtrand von Anklam; ihren Namen hat sie von einem Mundartdichter und Reformer. Die dänische Unternehmensgruppe Danisco hat die Zuckerfabrik nach der Wende übernommen und modernisiert. Von den 600 Mitarbeitern aus der sozialistischen Vergangenheit arbeiten noch knapp 200 in der modernen Anlage. Die verkleinerte Belegschaft raffiniert heute mehr als doppelt so viel Zucker wie vor der Wende.

Früher trafen sich in dem Schwimmbad neben der Zuckerfabrik die Betriebsangehörigen zum Feierabend. Der schmucklose Betonkasten zur Arbeitererholung steht auch heute noch zwischen unbefestigtem Betriebsparkplatz, Kleingartenkolonie und Kläranlage. Im blauen Licht strenger Neonreihen kontrollieren gleich zwei Bademeister, dass niemand vom Beckenrand springt. Doch wer baden will, fährt nicht zum Hallenbad nach Anklam, sondern auf die Insel Usedom. Anklam ist nur der Einlass zur Badewanne Usedom. Im Sommer versinkt die Stadt im Dauerstau. Die Urlauber müssen sich in das Nadelöhr am Stadtrand einfädeln, denn zwei Bundesstraßen münden hier in eine schmale Allee in Richtung Usedom.

Man hofft auf die Fertigstellung der Umgehungsstraße, die den Fernverkehr aus der Innenstadt heraushalten soll. Wer nicht nach Anklam will, soll dann schneller vorbeifahren können. Und die Urlauber werden vorbeifahren, sagen die Kritiker dieser Verkehrsplanung. Im Jahr 2005 soll die Ostseeautobahn, die A 20, befahrbar sein. Das Verkehrsproblem der Deutschen Einheit wird dann die Fahrzeit zwischen den alten Hansestädten Lübeck und Stettin erheblich verkürzen. Anklam wird davon nicht profitieren können. Die nächste Autobahnauffahrt wird 30 Kilometer von Anklam entfernt sein, in Jarmen. Wieder liegt Anklam im Schatten der Entwicklung, zu weit im Osten. Während in Jarmen an der zukünftigen Autobahnauffahrt ein großes Gewerbegebiet im Bau ist, um sogenannte Logistikunternehmen, Speditionen also, anzusiedeln, muss Wolfgang Stifft so weiterstochern wie bisher.

In Jarmen wird die Ostseeautobahn die Peene überqueren. Hier beginnt das Naturgschutzgebiet Peenetalmoor. Entlang des natürlichen Flusslaufes erstreckt es sich bis zur Peenemündung bei Anklam. „ Das letzte Paradies für viele Tiere“, nennt das größte zusammenhängende Niedermoor Europas eine Broschüre der Stadtinformation. Tourismus statt Zuckerrüben? Gerlinde Ladewig, Leiterin der Anklam Information, meint zwar pflichtschuldig, dass man all die Attraktionen im Umland gar nicht in einer Woche schaffen könne, doch nur wenige Urlauber wollen den Bibern beim Burgenbauen zuschauen. Die Insel Usedom mit ihren Kaiserbädern und den weißen Stränden ist der touristische Magnet, nicht das Naturschutzgebiet Peenetalmoor.

Früher war das anders, sagt Bürgermeister Wolfgang Stifft. Früher heißt immer: vor der Wende. Früher waren die Urlaube länger. Früher konnte man in Anklam vielleicht etwas finden, was daheim in Eisenhütten- oder Karl-Marx-Stadt nicht zu bekommen war. Heute ist das nicht mehr so, denn, so der Bürgermeister, „der Massenurlauber ist doch der, der an der Ostsee liegt, der abends noch mal in 'ne Bar gehen will und was erleben will, und dann fährt er nicht nach Anklam.“

Um etwas zu erleben, fährt man nicht in die Geburtsstadt Otto Lilienthals, trotz Otto-Lilienthal-Museum und Theater. Das Theater in Anklam liegt am Rande der Innenstadt auf einem Hof mit barackenähnlichen Gebäuden und hat von außen den Charme einer alternativen Spielstätte. Im Sommer zieht die gesamte Truppe des Theaters Anklam an den Ostseestrand. Dann spielen die zwölf Schauspieler des Ensembles in Theaterzelten und auf Freilichtbühnen in Heringsdorf oder Zinnowitz auf Usedom. Früher war das anders, da gehörte das Theater Anklam zu den Landesbühnen, und im Sommer waren Theaterferien. Früher wurden auch junge, unbequeme Theaterregisseure in die pommersche Provinz strafversetzt.

Einer von ihnen hieß Frank Castorf, heute viel gelobter Intendant der Berliner Volksbühne. In Anklam entwickelte er 1982 sein Brachial-Theater der Klassiker-Zertrümmerung. Das gefiel den Parteioberen ganz und gar nicht. Mit Hilfe Wolfgang Bordels drängten sie ihn aus dem Anklamer Theater und aus dem Land. Frank Castorf ging nach München, und die Kritiker empfingen ihn begeistert als den jungen Wilden aus dem Osten.

Wolfgang Bordel war damals Intendant des Theaters Anklam und ist es auch heute noch. In seinem Büro stapeln sich die Textbücher. Der grüne Kunstsamt der Couchgarnitur ist an den Armlehnen abgesetzt. Wenn Wolfgang Bordel heute über seine Anfangszeit in Anklam spricht, hat er weniger den politischen Konflikt vor Augen als die Besucherzahlen, denn Castorfs Inszenierungen mussten meist schon nach den ersten Vorstellungen abgesetzt werden. Die Besucher blieben aus. Kultur galt als Grundnahrungsmittel für alle, wie Spreewälder Gurken und Letscho. Ungewohnt sauer zu Beginn, aber eintönig im Dauerversuch. Castorf bot da in dem bäuerlichen Landstrich nur Schwerverdauliches.

Anders als bei Castorfs Regiearbeiten, waren die ersten Aufführungen Wolfgang Bordels Publikumserfolge. Seine Inszenierung des „Puntila und sein Knecht Matti“ traf den Geschmack des ländlichen Publikums eher als Ibsens „Nora“, von Frank Castorf arrangiert. Nach der Wende sollte das Theater im ehemaligen Schützenhaus geschlossen werden. Zu wenig Plätze, kaum Brandschutzeinrichtungen und zu nahe an den großen Bühnen in Greifswald und Neubrandenburg. Doch Wolfgang Bordel hat weitergemacht. Mit einer Mischung aus Trotz und Naivität, wie er selbst sagt. Aus dem Staatstheater wurde 1993 das Privattheater Anklam mit Unterstützung des Landes und der Stadt. Ein elitäres Verständnis von Theater kann sich der Intendant Wolfgang Bordel auch heute nicht erlauben, denn „das bürgerliche Verständnis von Theater setzt ja den Bürger voraus, und hier gibt es keinen Bürger. Es gibt hier nicht diesen Kreis von Apothekern oder diesen Kreis von Ärzten, die sich als Bürgertum verstehen. Die haben vielleicht die äußeren Merkmale dessen, aber das ist keine Schicht, die man so Bürgertum nennen könnte. Und ich habe auch so meine starken Bedenken, ob es die hier jemals geben wird.“

Viel wird davon abhängen, ob es der Stadt gelingt, die anhaltende Abwanderung in den Griff zu bekommen. Die wenigen Häuser der Altstadt, die Zerstörung und Wiederaufbau überlebt haben, stehen heute meist leer. Die Fenster sind verrammelt, die Türen versperrt. Nur vereinzelt sind die zweigeschossigen Häuser schon restauriert. Ganze Straßenzüge wirken verlassen. Hinter dem kleinen Altstadtviertel liegt der Hafen. Möwen kreisen über die paar rostigen Kähne, die hier vor Anker liegen. Ein kurzes Stück Promenade am Hafen wurde angelegt, während Kräne und Silos langsam verfallen. Die Zukunft der Stadt Anklam wird im Tourismus liegen, im Naturschutzgebiet Peenetalmoor und in der Sanierung der Altstadt. Doch das kostet Geld. Geld, von dem in Anklam niemand sagen kann, wo es herkommen soll.

Und Bürgermeister Wolfgang Stifft lehnt sich zurück in seinen braunen Ledersessel und macht kein Hehl daraus, dass er es auch nicht weiß. Er erinnert sich an früher. „Auch 1990 haben wir gedacht, wir können innerhalb von vier bis fünf Jahren alles verändern und können die Welt umstoßen. Wir wurden schnell eines Besseren belehrt. Es bewegt sich alles zwischen Daumen und Zeigefinger. Es kostet alles Geld.“