Das Wasser steigt

Dreißig große und tausende kleinerer Dämme sollen den zentralindischen Narmada-Fluss in eine schier endlose Kette von Stauseen verwandeln. Hunderttausende von Bauern müssten dafür allerdings Dörfer und Ländereien verlassen und umgesiedelt werden. Die Betroffenen haben panische Angst vor der Entwurzelung. Ihren Protest gegen das Megaprojekt beobachtet Rainer Hörig

Wem gehört das Land? Wer hat hier was zu sagen?“ ruft der Redner in die Menge. „Wir sind uns einig, in unserem Dorf bestimmen wir!“ lautet unisono die Antwort. Mit Traktoren und Motorrädern, in Segelbooten und zu Fuß sind sie gekommen: Bäuerinnen in knallbunten Saris, Landmänner mit mächtigen Schnurrbärten, dunkelhäutige Fischer sowie Collegestudentinnen aus der nahen Kleinstadt. Bis zum letzten Platz füllen sie die Straßen von Patrad, einer Zehntausend-Seelen-Gemeinde am Nordufer des zentralindischen Narmadaflusses. Natürlich, sie wollen auch die weltberühmte Schriftstellerin Arundhati Roy sehen, die an der Spitze einer Demo eintrifft und begeistert empfangen wird. Blumen regnen auf sie herab, Hausfrauen drücken ihr rote Willkommensmale auf die Stirn. „Wir wollen ein tieferes Verständnis für die hiesigen Probleme wecken und die unterbrochenen Beziehungen zwischen Stadt- und Landbevölkerung erneuern“, betont die Autorin.

Die „Probleme“ gehen von einem der größten Wasserbauprojekte der Welt aus, das den Charakter einer ganzen Region zu schänden droht. Rund vierhundert Studentinnen, Kleinunternehmer, Basisaktivisten und Journalisten ließen im August jeden städtischen Komfort hinter sich und stürzten sich ins Abenteuer – eine achthundert Kilometer lange Reise mit Bussen, Booten und zu Fuß in eine fremde, altertümliche Welt. Ihre „Rally for the Valley“ stieß ins Herz Indiens vor, ins Tal des von unzähligen Tempeln gesäumten Narmadaflusses, der von Hindus als heilig verehrt wird. An den Badeplätzen der historischen Stadt Maheshwar zelebrierten die Demonstranten ein uraltes Ritual: Wie die Pilger, die seit Jahrhunderten den Fluss umrunden, setzten sie brennende Öllämpchen ins Wasser und beobachteten, wie der Fluss ihre Grüße in die Nacht hinaus trug. Patrad, Anjad, Badra, Nirsapur – auf allen Stationen der Reise wurde der Solidaritätszug mit Blumen und Musik empfangen, wurden Ansprachen gehalten, wurde der Wille zum Widerstand bekräftigt. Bäuerinnen und Bauern demonstrierten den Fremden aus Kalkutta, Delhi, Bombay, was Gastfreundschaft bedeutet: Sie luden die Unterstützer gruppenweise in ihre Häuser, bewirteten sie und bereiteten den Erschöpften ein warmes Bett.

Am vierten Tag, nach einem fünfstündigen Fußmarsch durch den monsungetränkten Dschungel, erreichte die „Rally for the Valley“ ihr Ziel, das Ureinwohnerdorf Domkhedi, das auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Von bewaldeten Bergen umgeben, schien der Ort vor Jahresfrist noch in luftiger Höhe über dem Narmada zu schweben, doch seitdem fünfzig Kilometer flussabwärts der Sardar-Sarovar-Damm in den Himmel wächst, rückt der Wasserspiegel im Stausee gefährlich nahe. Eine einzige Springflut, ausgelöst durch heftige Monsunregen und einen Rückstau hinter dem Damm, könnte für Domkhedi das Ende bedeuten.

Hier wird die ganze Brutalität der Staudammtechnik sichtbar: Jahr für Jahr klettert das Wasser höher die Berge hinauf, verschlingt gnadenlos Wälder, Häuser und Ackerland. Hunderttausende von Menschen sehen sich vor die Wahl gestellt, ihr Leben radikal zu verändern oder zu ertrinken: Sie sollen die gewohnte Umgebung verlassen, sich von Nachbarn, Freunden und Verwandten trennen und in der Fremde eine neue Existenz aufbauen. Ureinwohnern und anderen bäuerlichen Gemeinschaften, die bis heute in enger wirtschaftlicher und spiritueller Symbiose mit dem Land ihrer Ahnen leben, flößt die Entwurzelung Ängste ein: Werden wir in der Fremde genug zu essen bekommen, wie können wir uns gegen Ausbeuter und Kriminelle wehren, werden die Götter uns weiterhin gegen Krankheit und Unheil schützen? „Wir sind für ein Leben im Wald geboren, woanders finden wir uns nicht zurecht“, erklärt die Bäuerin Pervi Bhilala in Domkhedi, die zum Stammesvolk der Bhil gehört. „Dieses Land bedeutet uns alles, es ernährt Mensch und Vieh. Wenn all das untergeht, sind wir ruiniert. Wir haben keine Wahl: Dies ist unser Land und wir werden bleiben, komme, was da wolle.“

In einer Bambushütte unterhalb von Domkhedi kampiert seit Mitte Juni die Sozialwissenschaftlerin Medha Patkar, die vor vierzehn Jahren die Protestbewegung gegen die Staudämme ins Leben rief. Gemeinsam mit Bewohnern und Aktivisten will sie ihre Hütte nicht verlassen, ganz gleich, wie hoch das Wasser auch steigt. Sie sei bereit, zusammen mit den Dorfbewohnern zu sterben, erklärt Medha Patkar den mitgereisten Journalisten. Ob sie denn glaube, damit den Staudammbau stoppen zu können, fragt einer. „Wir sind nicht hier, um Selbstmord zu begehen“, erklärt die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Aktivistin. „Aber der Widerstand tritt jetzt in die entscheidende Phase. Wir wollen endlich Antworten auf all die Fragen, die wir in die Debatte geworfen haben. Falls der Damm weitergebaut werden sollte, werden wir den Freitod im Wasser wählen.“

Am 11. August, knapp eine Woche nachdem die Unterstützer wieder nach Hause gefahren waren, trat der Ernstfall ein. Nach heftigem Monsunregen stieg nachts der Wasserstand im Stausee in wenigen Stunden um mehr als acht Meter an. Um Mitternacht erreichte das Hochwasser ihre Hütte und riss Medha Patkar und die anderen Streikenden aus dem Schlaf. Im Morgengrauen standen sie schon bis zu den Hüften in den schlammbraunen Fluten, und der Pegel kletterte noch weiter. Gegen Abend erreichte dann eine Polizeikolonne den entlegenen Ort, zog rund sechzig Demonstranten aus dem Wasser und führte sie in Gewahrsam. Nach ihrer Freilassung einen Tag später nahmen die Demonstranten den Protest wieder auf. Sie wollen die Aktion fortsetzen, solange der Monsun anhält. Um der Polizei zukünftige Rettungsaktionen zu erschweren, verteilen sie sich auf mehrere Dörfer und wechseln gelegentlich ihren Aufenthaltsort.

Das Narmadaprojekt entstand in den fünfziger- und sechziger Jahren, als der Glaube an den technischen Fortschritt noch ungebrochen war. Dreißig große und tausende kleinere Dämme sollen den Fluss in eine lückenlose Kette von Stauseen verwandeln. Wasser und Elektrizität, Fortschritt und Wohlstand versprechen die Förderer dieses größten Wasserbauvorhabens in Indien den Bauern, um diese zur Übergabe ihres Landes zu bewegen. Man werde sie für den Verlust entschädigen und moderne Dörfer für sie anlegen, wird ihnen gesagt.

Doch ein Besuch am Bargi-Staudamm am Oberlauf der Narmada hat viele der Betroffenen eines Besseren belehrt. Vor zehn Jahren war die Talsperre geflutet worden, bis heute warten tausende von Betroffenen auf Entschädigung für ihr Land. Viele sind in die Slums im nahen Jabalpur geflohen, wo sie sich als Tagelöhner und Rikschakulis durchschlagen. Seit Beginn der fünfziger Jahre wurden in Indien nach vorsichtigen Schätzungen zwanzig Millionen Menschen allein durch den Bau großer Staudämme entwurzelt.

Keine Steuergelder für Vertreibung“ stand auf Deutsch auf einem der Transparente in Patrad und: „Siemens and ABB go back“. Deutsche Firmen beteiligen sich am Bau des Maheshwar-Dammes nahe der gleichnamigen Stadt. Patrad liegt nur wenige Kilometer von der Baustelle entfernt, niemand wird hier der Flut entkommen. Schon heute leidet die Bevölkerung der Region unter der Arroganz der Bauherren. Der Bauer Narayan Phattu aus Jalud verlor 1995 sein Land nahe der Dammbaustelle. Heute muss er sich als Landarbeiter verdingen. Die 60jährige Witwe Anokhibai aus dem Dorf Samraj sah ohnmächtig mit an, wie Bulldozer das Weideland ihres Dorfes planierten, um Häuser für Umsiedler aus Jalud zu errichten. „Daraufhin musste ich mein Vieh verkaufen. Ich besitze kein Land – soll ich nun etwa Steine essen?“ Seit 1997 protestieren Betroffene gegen den Maheshwar-Damm. Annähernd 25.000 Menschen besetzten im Januar 1998 den Bauplatz und erzwangen vorübergehend die Einstellung der Bauarbeiten. Im vergangenen April zogen tausende in die Landeshauptstadt Bhopal und veranstalteten ein Sit-in und einen Fastenstreik vor dem Parlamentsgebäude. In Deutschland fordern mehr als hundert Bürgerinitiativen die beteiligten Firmen zum Rückzug auf. „Ein Projekt, das die Überlebensrechte indischer Kleinbauern gefährdet, verdient keine staatliche Exportversicherung“, schimpft die Sprecherin der Kampagne, Heffa Schücking von der Umweltgruppe Urgewald. Sie erinnert daran, dass die Weltbank 1993 nach jahrelanger Debatte und internationalen Protesten ihre Kreditleistungen für den Sardar-Sarovar-Staudamm stoppen musste. Die indischen Projektbetreiber waren trotz wiederholter Mahnungen und großzügiger Fristen nicht in der Lage, die Weltbankkriterien für Umweltschutz und Umsiedlung zu erfüllen!

Rainer Hörig, 43, berichtet seit zehn Jahren aus Pune nahe Bombay für Presse und Hörfunk in Deutschland. Für ein Radiofeature über die Narmadastaudämme erhielt er 1991 den Journalistenpreis Entwicklungspolitik