Goldesel streckt sich

Die Gratiszeitung „Metro“ ist ein Riesenerfolg in Schweden und Vorbild für Skandinavien und auch anderswo ■ Von Stefan Schmitt

Stockholm (taz) – „Ta ditt exemplar!“ (Nimm dein Exemplar!), fordern die grünen Zeitungskörbe Morgen für Morgen jeden Fahrgast beim Betreten der Stockholmer U-Bahn auf. In den Körben liegt, im lesefreundlichen taz-Format, die Metro. Mit ihr wurde vor fünf Jahren der Prototyp der Gratisblätter geboren, die derzeit rund um den Globus, egal ob in Köln, Philadelphia, Santiago de Chile oder Zürich, für hysterische Verleger sorgen – und die Gerichte beschäftigen wie heute z.B. 20 Minuten Köln (siehe Kasten).

1995 tauchte die Metro als welterste kostenlose U-Bahn-Tageszeitung in Stockholm auf. Nach einer Woche blätterten 300.000 der 1,5 Millionen Stockholmer morgens im Gratisblatt. Heute sind es doppelt so viele. Die sechsmal wöchentlich erscheindende Metro ist die zweitgrößte Zeitung der Stadt, die drittgrößte in Schweden und ein Goldesel für die Herausgeber, die Stockholmer Modern Times Group (MTG), die zur Kinnevik-Gruppe gehört – einem der größten skandinavischen Medienkonzerne. Metro ist die einzige Neugründung einer Tageszeitung in Schweden seit 50 Jahren – wenn man das bunte Anzeigenblatt denn als vollwertige Tageszeitung bezeichnen will.

Service-Journalismus fürs werbefreundliche Umfeld

Das Rezept für Metro ist simpel und oft kopiert: Zwei Drittel des Inhalts sind aus Agenturmeldungen zusammengestückelt. Dazu kommen ein ausführlicher lokaler Wetterbericht, Veranstaltungstipps, Radio- und Fernsehprogramm. Die einzige erkennbare Meinungsrubrik ist die täglich wechselnde Kolumne, die sich gerne mit sexueller Doppelmoral oder männlicher Eishockeysucht beschäftigt, seltener mit Politik. Wer in den täglich 24 bis 56 Seiten nach mehr als Lesehappen sucht, dem bleibt einzig die Reportage-Doppelseite. Und die wöchentlichen Beilagen Beruf, Reise, Unterhaltung etc. sorgen mit harmlosem Service-Journalismus für werbefreundliches Umfeld pur.

Metro, das Anzeigenblatt auf dem Weg zur Arbeit. Wer sich nur aus Werbeerlösen finanziert, der muss den Werbetreibenden schon etwas mehr bieten als die Bezahlblätter, etwa ein „exklusives“ Publikum im eigentlichen Wortsinn: ein Drittel der Stockholmer leistet sich kein Zeitungsabonnement, kauft auch nicht am Kiosk. Metro liefert diese Leserschaft. Und Medienanalysten schwärmen: überdurchschnittlich jung und besonders hoher Frauenanteil – die täglichen Konsumentscheider.

Die Zauberformel ist der Vertriebsweg: die U-Bahn

Nach dem Start des Gratisblattes liefen den seriösen Morgenblättern Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet mehrere Großkunden weg, hauptsächlich Supermärkte und Ladenketten. Die Boulevardtitel Expressen und Aftonbladet verloren im U-Bahn-nahen Kioskverkauf zehn Prozent. Inzwischen genügt es vielen Werbekunden, in den beiden größten Zeitungen zu inserieren: Dagens Nyheter und eben Metro.

Als Reaktion auf die U-Bahn-Gazette startete Altverleger Bonnier (Dagens Nyheter, Expressen) die kostenlose Wochenzeitung avisen. Inzwischen ist der Titel verkauft, der Erfolg war zu mässig. Denn die Zauberformel ist der Vertriebsweg über den Nahverkehr: ideale Verteilung in Verdichtungsräumen mit hoher Pendlerquote zu extrem niedrigem Preis. Nur die überschaubare Zahl der U-Bahn-Stationen muss als Verteilungspunkt beliefert werden, in ganz Stockholm wenig mehr als einhundert. Und aufgeschnitten und platziert werden die Zeitungspakete von den Mitarbeitern der Verkehrsgesellschaft, die jährlich eine millionendicke Konzession erhält, was selbst den Stockholmer Medienexperten Stig Hadenius begeistert: „Eine geniale Idee. Metro hat hier ein echtes Monopol.“ Inzwischen erscheinen Ableger in zehn Ausgaben weltweit, unter anderem als Metropol in Zürich.

Dort prallt MTG auch gleich mit zwei Konkurrenten zusammen, exemplarisch für den Markt der Gratisblätter. Den machen die schwergewichten Platzhirsche unter sich aus: Zürichexpress wird von den Verlegern der Neue Zürcher Zeitung und des Tages-Anzeiger hergestellt, um MTG zuvorzukommen. Ähnliches geschah im März 1999 in London und Ende Juni in Holland. In London beerdigte MTG daraufhin ihre Pläne.

Der dritte Züricher Kostenlostitel kommt vom norwegischen Schibsted-Konzern. Erst seit Anfang letzten Jahres sind die Osloer im Gratisgeschäft. Für ihre ausländischen Märkte kupfern sie – bislang nur in Zürich und Köln – unter dem Titel 20 Minuten die Metro-Idee ab. Auch Schibsted kommt aus dem konventionellen Mediengeschäft, besitzt die beiden größten Tageszeitungen Norwegens, das schwedische Svenska Dagbladet und dutzende Beteiligungen im skandinavischen Print- und TV-Bereich. Der Konzern hat allerdings zu Hause mit Gratisblättern weit weniger zu schaffen: Der Gratistitel Avis 1, der seit April 1999 in Oslo erscheint, ist eine Light-Version zur Optimierung des Leserpanels: Zweimal die Woche wird das Blatt nur jenen Haushalten vor die Tür gelegt, die nicht Abonnenten von Aftenposten sind. So kann der Konzern Werbekunden vor Ort mit beiden Blättern eine praktisch lückenlose Leserschaft bieten.

Den schwedischen Geniestreich, durch Verteilung in U-Bahnhöfen aus dem täglichen Fahrgast- einen Leserfluss zu machen, kupfert Avis 1 indes nicht ab, noch nicht. Wenn jedoch der Kölner Verlag DuMont Schauberg, wie für den Fall des Wiedererscheinens von 20 Minuten Köln angedroht, ein Konkurrenz-Freebie in Oslo startet, könnte Schibsted sich provoziert fühlen. Und um einen solchen Wettbewerb zu gewinnen, muss man nicht unbedingt eine gute Zeitung produzieren – sondern sich vielmehr das Verteilungsmonopol der Verkehrgesellschaft sichern.