Ruhe, Ordnung, Selbstmord

Für Reinhard Jirgl ist die am leichtesten zu machende Erfahrung die des Scheiterns. In „Die atlantische Mauer“ lässt er wieder einmalkeine Nachsicht mit seinen Figuren erkennen. Ein höhnisch-kalter Wind durchweht alles, was Liebe, Glück oder Geborgenheit sein könnte
von PETER WALTHER

Karl Kraus hatte einst auf den Doppelsinn des Worts „Familienbande“ hingewiesen. Im Vergleich dazu mutet das, was Reinhard Jirgl sich selbst und den Lesern seines neuen Romans „Die atlantische Mauer“ zumutet, geradezu harmlos an. Das Scheitern jeder erdenklichen Form von menschlicher Gemeinsamkeit über die bloße Koexistenz hinaus ist das Thema von Jirgls neuer literarischer Höllenfahrt. In immer neuen Anläufen variiert Jirgl sein Leitthema: Liebe, das Gefühl, für einander geschaffen zu sein, ist im besten Fall ein lebenslang unaufgeklärt bleibendes Missverständnis, das Leben überhaupt besteht aus einer Kette von Verfehlungen, aus der Summe des Scheiterns.

Wer Jirgls andere Romane kennt, der dürfte von diesem Befund nicht sonderlich überrascht sein. Dem Autor gelingt es erzählerisch souverän, die Grundkonstellation des Romans auf den ersten drei Seiten abzustecken: Eine junge Frau aus dem Osten hat ein Verhältnis mit einem alten und reichen Arzt aus dem Westteil Berlins, der sich auf Drängen seiner Familie der Ostfrau entledigt. Er ermöglicht ihr, was sie selbst am meisten wünscht – einen Neuanfang in New York, auf der anderen Seite der „atlantischen Mauer“.

Nach einem missglückten Einreiseversuch – die Papiere mit der Bewerbung für eine Schwarzarbeit in New York lagen im Koffer obenauf – wird die Frau bei ihrer Rückkehr auf dem Flughafen Tegel vom Hauptgrund ihres Fluchtversuchs empfangen: ihrer Familie. Sie findet Asyl bei ihrem Bruder, der gerade von seiner Frau verlassen wurde, um Kraft für den zweiten Anlauf zu schöpfen. Beide legen sich Rechenschaft ab über ihr gestörtes Elternhaus, in dem ihnen die Konsequenz nicht lebbarer Zweisamkeit schon vor Jahren vorgelebt wurde: Die Mutter tat sich zusammen mit einer Frau aus dem Westen, die als Opfer sexueller Übergriffe ihres Vaters die Chance nutzte, mit der Übersiedlung in die DDR alle Fäden zur Familie zu zerschneiden. Der Vater dagegen schloss sich – nach einem Beziehungsintermezzo mit seiner Sekretärin – auf dem Dachboden des Hauses ein und vermied es fortan, von der Welt Kenntnis zu nehmen.

Die gedrängte Aufzählung des Geschehens im ersten Teil des Buchs wirkt unfreiwillig komisch, und tatsächlich wird nichts ausgelassen, was das Thema an konfliktträchtigen Klischees zu bieten hat: Junge Frau und alter Mann, Ost und West, die Friedhofsruhe der Familienharmonie oder die Querelen der Trennung, Homosexualität und der sexuelle Missbrauch von Kindern. Doch damit nicht genug. Den Mittelteil des Buchs bildet der Hiobs-Monolog eines Mannes, der von seiner Frau verlassen wurde und über „die drei Bürgertugenden Ruhe, Ordnung, Selbstmord“ sinniert. Im schnellen Wechsel von Totale und Nahaufnahme entsteht das Bild einer Großstadt, das Bild Berlins, bevölkert von einem Meer überflüssiger Menschen, von einer „Menschenschwemme“, und mittendrin der überflüssigste von allen, der von seiner Frau und vom Glück Verlassene, besessen von Gewaltfantasien und vom Zynismus des Gescheiterten, der das Menschentheater zu kennen glaubt.

Eine ähnliche Figur begegnet uns im letzten Teil des Buchs, der in den USA spielt, in New York und in einem Ort außerhalb der Stadt, wo sich Vater und Sohn (eine der wenigen bis hierher ausgelassenen familiären Konstellationen) gegenseitig die Beichte abnehmen. Der Vater, ein Schriftsteller in der Krise, war der Einladung des Sohnes von Berlin nach Amerika gefolgt, um dort die Großvaterrolle in einem vermeintlichen Familienidyll einzunehmen, das sich jedoch schnell als das Gegenteil desselben herausstellt. Im Flugzeug begegnet der Schriftsteller jener Frau aus dem Osten, die ihren zweiten, und, wie der Leser erfährt, diesmal erfolgreichen Versuch unternimmt, die „atlantische Mauer“ zu durchbrechen.

Während der Sohn dem Vater im heimischen Landhaus seine Verzweiflung ob der auseinanderbrechenden Ehe und seine gegen die Frau gehegten Mordpläne beichtet, bringt der Vater die Kraft nicht auf, ihm die Wahrheit zu sagen: dass er selbst ihn, seinen Sohn, um der Green Card wegen vor Jahren mit dieser Frau verkuppelt hatte. Fünfzehn Jahre Ehe, Alltag und Kinderglück – nachträglich alles Täuschung, Verrat? Für den Sohn bleibt wiederum nur die Flucht – zurück nach Deutschland, wo „die am leichtesten zu machende Lebenserfahrung die des Scheiterns“ ist.

Jirgl leuchtet die Abgründe menschlicher Existenz aus unterschiedlichen Perspektiven aus und lässt dabei keine Nachsicht mit seinen Figuren erkennen, kein „Nichts Menschliches ist mir fremd“. Der Roman wird zum Schauplatz dauerhafter Fluchtbewegungen, von der Einsamkeit in die Zweisamkeit und von dort wieder zurück in den selbst gebauten Käfig der Verweigerung oder in das Vorzimmer zur nächsten Erfahrung, die wiederum eine des Scheiterns sein wird – ein Kreislauf, dem durch bloßen Ortswechsel schwerlich beizukommen ist.

Ein höhnisch-kalter Wind durchweht den Roman und streift alles, was Liebe, Glück oder Geborgenheit sein könnte. Nicht Ironie, sondern Sarkasmus beherrscht das Feld (etwa wenn der Erzähler in 10.000 Meter Höhe im Flugzeug einen Film verfolgt und von „gehobener Unterhaltung“ spricht). Das Scheitern ist dabei von einer gewissen Folgerichtigkeit, die ohne Überraschungen bleibt. Jirgls Blick auf seine Figuren ist, wie schon in den vergangenen Büchern, ein pornographischer. Beziehungen, die als Liebesverhältnisse oder erotische Episoden denkbar wären, entbehren jeder Sinnlichkeit. Körper werden auf ihre Materialität reduziert, auf das Fleisch. Die Szenerie ist in das Licht einer als Illusionslosigkeit getarnten Resignation getaucht.

Doch steht die intellektuelle Schärfe, mit der die Beziehungen seziert werden, dem Autor immer dann im Weg, wenn er vom Erzählen ins Dozieren gerät. Jirgl ist ein Virtuose, ein Formulierungskünstler abseits aller Sprachschablonen, der wahre Wort- und Lautgemälde entwirft. Dass die Geschichte am Ende trotz aller Fleischbeschau so merkwürdig fleischlos bleibt, hängt wohl damit zusammen, dass es in Jirgls Romanwelt keinen Maßstab für das Tragische gibt, weil auch der Maßstab für das Glück fehlt.

Reinhard Jirgl: „Die atlantische Mauer“. Hanser Verlag, München, Wien 2000, 450 Seiten, 49,80 DM

Zitat:

Jirgls Blick auf seine Figuren ist ein pornographischer. Beziehungen entbehren jeder Sinnlichkeit. Körper werden auf das Fleisch reduziert.