Den Orient in Syrien spürien

Wahre Lokale (16): Das phänomenal lässige „Hedschas“ in Damaskus

Mein Freund Lutz und ich kamen gerade vom Freiluftkonzert einer algerischen Hip-Hop-Gruppe ins „Hedschas“, als die deutsche Mannschaft bei der Weltmeisterschaft 1998 mit 0:3 Toren in Rückstand lag. Unsere Herkunft ließ sich trotz jahrelanger Arabisch-Paukerei nicht lange leugnen, und damit war der Abend gelaufen. Chaled spendierte uns ein „Barada“ zum Trost, Iljas eines aus Schadenfreude, Lutz revanchierte sich mit den nächsten drei Runden, und ich wollte auch nicht knausrig sein. Alle weiteren Anlässe habe ich schlicht vergessen.

Auf dem toten Gleis steht der noble Orientexpress

Mit dem syrischen Bier ist es beinah wie mit dem syrischen Präsidenten. 98,9 Prozent aller Syrer wählen Assad – zweifellos eine phänomenale Quote! Der Grund ist weniger phänomenal: Es gibt keinen anderen Kandidaten. Wer in Damaskus, der syrischen Hauptstadt, Bier verlangt – sei es im Krämerladen von Vater Walfisch, im Arbeiterclub oder in einer der zwielichtigen Kaschemmen rund um den Märtyrerplatz – dem wird „Barada“ hingestellt.

„Barada“ heißt die faulige Brühe, die sich durch Damaskus schlängelt und auf den Stadtplänen als „Fluss“ tituliert wird. „Barada“ heißt auch das syrische Bier, das in Damaskus gebraut wird. Ob das Brauwasser aus eben jener öffentlichen Kloake stammt, die den gleichen Namen trägt, konnte ich bis heute nicht ermitteln. Ich glaube es aber nicht. „Barada“ – das Bier! – ist lecker. Zwar benötigt ein mitteleuropäischer Durchschnittsbierkonsument in Syrien mindestens drei Flaschen, um den gewohnten Trunkenheitsgrad in seinem Kopf herzustellen. Aber er setzt sich nicht der Gefahr aus, durch wildes Durcheinandertrinken verschiedener Brausorten den nächsten Morgen aufs Spiel zu setzen. In Syrien gibt es nur dreiprozentiges „Barada“, und Vater Walfisch, der seinen Namen seiner beeindruckenden Physiognomie verdankt, reicht für 350 Lira, was etwa zwölf schwarzgetauschten Deutschmark entspricht, gern zehn Halbliterfläschchen über die Ladentheke.

„Barada“ trinkt man auch im „Hedschas“. Wer noch nie in diesem Lokal war, wird Schwierigkeiten haben, es zu finden. Dabei liegt das „Hedschas“ im Herzen von Damaskus. Da nämlich ragt der alte Bahnhof auf. 1903 erbaut, versucht er europäische Kolonialprotzerei, osmanische Laszivität und syrisches Dumdideldei zu vereinen. Und aus allen seinen Steinritzen atmet Geschichte. Hier begannen 1901 deutsche Ingenieure den Bau der Pilgerbahn nach Medina. Hier drängten sich Lawrence von Arabien und Ägyptens Nasser auf den engen Bahnsteigen durch die Wartenden. Hierher rollte der noble Orientexpress. Der ist gleich dageblieben und hat sich bereitwillig umfunktionieren lassen: zum lässigsten Lokal Syriens, dem „Hedschas“.

Hier rollen die Abende dahin wie ein Luxuszug

Schon wenn man die breiten Stufen des Bahnhofs emporsteigt und die mit kitschig-grusligen Porträts des Präsidenten Hafis al-Assad und seinen sonnenbebrillten Söhnen geschmückte ehemalige Schalterhalle durchschreitet, umweht einen der Hauch orientalischer Historie und abendländischer Pommes Frites. Durch ein hübsch gestaltetes Portal gelangt man auf den ersten von zwei Bahnsteigen und sinkt entspannt in einen weißen Plastikstuhl, jenes Möbel, das unverwöhnten Globetrottern an jedem Ort der Welt ein behagliches Gefühl von Heimat und Geborgenheit beschert. Wer die Nachtfrische nicht gewohnt ist, kann in den liebevoll restaurierten Speisewagen des Orientexpress klettern und an dezent von Öllampen beleuchteten Tischchen der Nacht entgegentrinken. Zum „Barada“ bestelle man Hammel oder Wasserpfeife. Die ist wahlweise mit gesüßtem oder naturbelassenem Tabak zu haben. Die goldene Regel: Rauche bis zum dreißigsten Lebensjahr den milderen „Mu‘assale“, danach ist eh egal, was sie dir in die Pfeife tun.

Hier im „Hedschas“ trinken vor allem Gutverdienende: Händler und Geldwechsler aus dem Suk, Piloten von Syrian Air und Besitzer von Stundenhotels. Aus den Lautsprechern stampft immer die gleiche Kompilation längst vergessener Sommerhits, die Ober haben ein Gedächtnis wie ein Sieb, und der Arak kommt in viel zu kleinen Flaschen. Hier rollen die Abende dahin wie ein Luxuszug.

Zu besonderen Anlässen wird für Fußballfreunde eine Großbildleinwand über den toten Gleisen aufgebaut – wie zur Weltmeisterschaft 1998, als Chaled und Iljas uns im „Hedschas“ das traurige deutsche Spiel vergessen und die phänomenale Lässigkeit Syriens – Verzeihung, aber das muss jetzt sein – spürien ließen. Wobei es im nordsyrischen Aleppo auch Lokale gibt; dort wird das „Halab“-Bier getrunken. Aber das ist eine andere Geschichte. FLORIAN HARMS