„Symbolische Landschaften“

Ein Gespräch mit der indisch-amerikanischen Schriftstellerin Meena Alexander über Heimat-und Sprachgefühle, die Notwendigkeit der US-Staatsbürgerschaft und den weiblichen Körper

Interview SABINE BERKING

taz: Ihr neuer Roman über eine Einwanderin in New York heißt „Manhattan Music“. Was hat es mit diesem Titel auf sich?

Meena Alexander: Die Musik Manhattans, der Jazz, hat viel gemeinsam mit der klassischen indischen Musik. Sie beruht auf Improvisation. Diese Musik existiert nur in dem Moment, in dem sie aufgeführt wird. Man benutzt, was man gerade zur Hand – besser im Kopf – hat. Und das wiederum hat viel mit dem Leben von Migranten zu tun. Im Roman gibt es zahlreiche Bilder von flüchtigen Heimaten, provisorischen Behausungen. Wir haben alle keine wirklich stabile Heimat, obwohl wir zuweilen glauben, dass wir sie haben. „Manhattan Music“ ist ein Buch über eine Frau, deren Erinnerungen keinen Platz in jener Welt finden, in die sie hineingeworfen wurde.

Manhattan, was bedeutet das?

Ich glaube, das Aufregendste an Manhattan ist dieser Wirrwarr der Kulturen, die Art, wie man von den vielen Welten, die diese brodelnde Metropole formen, lernen kann. Identität ist in dieser Welt neuer Ethnizitäten eine fließende Angelegenheit. Ich sehe das an meinen eigenen Kindern. Doch selbst in Indien haben wir hybride Kulturen, alte Zivilisationen und Sprachen, die nebeneinander existieren. Amerika bedeutet natürlich eine gewisse Liberalisierung.

Wäre ich in Indien geblieben, wäre mein Leben sicher anders verlaufen, ich wäre nicht das, was ich bin. Ich bin amerikanische Staatsbürgerin geworden, um zu wählen, um am politischen Leben teilzunehmen. Andererseits weiß ich, ich kann meine Hautfarbe nicht einfach abstreifen, wenn ich auf die Straße gehe. Ich kann mich von meinem weiblichen Körper, der eine Farbe hat, nicht befreien.

Rasse und Geschlecht – zwei Schlagwörter der amerikanischen Gesellschaft?

„Rasse“ hat für mich immer eine schmerzhafte Dimension. Ich kann es mir nur als eine Wunde vorstellen, etwas, was ich nicht von meinem weiblichen Körper abtrennen kann. Denn Frau zu sein ist kein Zusatz zu Rasse, sondern es ist damit verwoben, ein Teil meines mir unentfremdbaren Körpers.

Manchmal denke ich, dieses „Rassending“ ist eine Luftblase, die jeder Grundlage entbehrt, die reif ist, sich aufzulösen. Frei zu sein in Amerika heißt letztlich, frei zu sein von Rasse. Aber hier muss ich schon wieder anhalten. Ist es nicht dieses „Rassending“, das mich, meinen Körper, markiert? Der destruktivste Effekt des Rassismus ist, dass man obdachlos wird in seinem eigenen Körper. Zugespitzt könnte das so aussehen: Man geht die Hauptstraße entlang, bekleidet in Sari und Bluse, und auf der Stirn, den Lidern, den Wangen steht mit weichem Lippenstift geschrieben: DAS BIN NICHT ICH!

Sie schreiben in einem Essay von der Gewalt, die in Ihre Vorstellungen eindringt.

Gewalt hat mit Stacheldraht und Rassengrenzen zu tun, die wir im Leben und in den Träumen überqueren müssen. Sie ist in vielen Gesellschaften unausweichlich. Ich denke dabei an ein Gedicht von Adrienne Rich: Du musst dorthin gehen, wo die Angst ist, dorthin, wo das ist, was du selbst nicht gewählt hast . . .

Sie sind an viele Orte gegangen, haben auf vier verschiedenen Kontinenten gelebt. Wie hat Sie diese Erfahrung geprägt, wo fühlen Sie sich „zu Hause“?

Meine Kunst ist meine Heimat. Gleichzeitig weiß ich, dass sie es nicht sein kann. Ein Gedicht ist der einzige Ort, an dem meine zahlreichen Welten zueinander finden. Gedichte zu schreiben ist für mich eine psychologische Notwendigkeit. Jeder braucht einen Raum, ein Haus, ein Dach. Viele haben es nicht. Doch wir alle brauchen auch symbolische Landschaften.

Symbolische Landschaft als Heimat?

Es gibt diese tiefe menschliche Sehnsucht, nach Hause zurückzukehren. Wir wissen nicht, was genau dieses Zuhause ist, doch wir spüren, es gibt Momente, in denen wir diesem Gefühl sehr nahe kommen. Wir sind geprägt von Ortsveränderungen, freiwilligen oder erzwungenen. Doch es gibt Augenblicke der Nähe. Das kann ein anderer Mensch sein, eine Minute der Einsamkeit in der Natur oder im Labyrinth der Großstadt. Diese Momente verbinden unsere zersplitterten Welten, zumindest für kurze Zeit.

Beim Anblick eines Baumes im Berliner Tiergarten haben Sie gesagt, das erinnere Sie an Heimat. Ist Natur eine Zuflucht vor Heimatlosigkeit?

Ein Segen in unserem Leben ist das Gefühl für die natürlichen Formen. Bäume, Blumen. Die Natur bildet für mich eine Verbindung zwischen den Stationen im Leben. Natur lehrt Bescheidenheit gegenüber uns selbst, denn hier sind Dinge, die nicht von Menschen gemacht sind.

Sie sprechen neben Ihrer Muttersprache Malajalam, Arabisch, Hindi, Französisch, Urdu und Englisch, die Sprache, in der Sie schreiben. Was bedeuten Ihnen diese Sprachen?

Ich bin wie viele Menschen in Indien mit mehreren Sprachen aufgewachsen, in meinem Fall waren es Malajalam, Hindi und Englisch. Und ich fühle mich damit durchaus wohl. Ich bewege mich, wenn Sie so wollen, zwischen den Grenzen dieser Sprachen. Obwohl ich auf Englisch schreibe, denke ich durch den Rhythmus anderer Sprachen. Auf diese Weise lassen die Bewegung und das Spiel der Worte, die gemeißelte Ordnung der Linien, einen Sinn zu, wie er sich durch die Zäsuren meiner Migrationen herauskristallisiert hat.

Wie ist Ihr Verhältnis zur englischen Sprache, der Sprache der einstigen Kolonialmacht, aus der Ihre Gedichte und Romane gemacht sind?

Zum Englischen kam ich auf komplizierte Weise. Ich habe es zunächst in Indien gelernt und später in Khartoum, wo ich eine britische Hauslehrerin hatte. Mir war, als versuchte diese Frau, die Spuren der anderen Sprachen in mir auszulöschen. Wenn ich lesen sollte, bin ich ausgerissen und auf einen Baum geklettert. Zuweilen bin ich vollkommen verstummt, wollte überhaupt nicht mehr sprechen.

Mit der Sprache ist es wie mit der unsichtbaren Architektur von Städten. Um zu schreiben, um Kunst zu produzieren, muss ich an Orte gehen, wo es keine Worte gibt. Sprache, Sprachrhythmus, Identität sind für mich ein Fluss, der sich vielfach krümmt, nicht eine schnurgerade Straße.

Sie haben zwei Kinder mit einem Amerikaner. Was unterscheidet Sie, die Einwanderin, von Ihren Kindern?

Ich bin es, die stets von meinen Kindern lernt. Ihre Kindheit ist eine ganz andere, als meine es war. Ich bin in einer traditionellen Familie erzogen worden. Heute lerne ich von meinen Kindern, wie man leben soll. Sie sprechen die Sprache, die sie umgibt, aber ich spreche eine andere Sprache als meine Umwelt. Warum? Weil ich bin, was ich bin, eine Einwanderin aus Indien. Ihre Sprache ist mehr aus einem Guss, ich aber muss immer Versatzstücke aus anderen Welten benutzen, einfach, weil ich stets umgezogen bin.

Migranten sind wichtig für die Gesellschaft. Sie wissen, es existieren Momente unversöhnlicher Differenz, und man muss damit leben.