Monsieur le Pionnier

Chirac sieht Deutschland und Frankreich als „Pioniere“, als Bahnbrecher des neuen Europa

von NICOLE MASCHLER

Es war die erste Rede eines ausländischen Staatsgastes im Reichstag, und es sollte eine Grundsatzrede sein. Was die Abgeordneten von Frankreichs Präsidenten Jacques Chirac erwarteten, war nicht weniger als ein europapolitisches Bekenntnis. Eine Antwort und ein Eingehen auf den deutschen Außenminister Joschka Fischer, der Mitte Mai die Idee einer europäischen Föderation neu belebt und damit in Frankreich alte Ängste heraufbeschworen hatte. Schon de Gaulle hatte lieber von einem „Europa der Vaterländer“ gesprochen. Und der französische Innenminister Jean-Pierre Chevènement nach Fischers Rede Deutschland vorgeworfen, sein System anderen Staaten aufzwingen zu wollen.

Fischer hatte seine Vorstellungen ausdrücklich als Privatmann vor Studenten der Humboldt-Universität vorgetragen. Chirac sprach als Präsident im deutschen Parlament. Er konnte und wollte sich nicht ganz eindeutig in seiner Antwort an Fischer äußern. So ließ er sich nur indirekt auf die Föderalismusidee ein. Notwendig sei, betonte er, eine Klärung der Debatte über die Art der Union. „Zu behaupten, es stünden sich diejenigen, die die nationale Souveränität verteidigen, und diejenigen, die deren Ausverkauf betreiben, gegenüber, käme einer Verfälschung der Wahrheit gleich.“ Weder Deutsche noch Franzosen wollten einen europäischen Superstaat, der die Nationalstaaten ersetze.

Der, an den sich Chirac Worte richteten, blieb nach außen ungerührt. Während vor allem aus den Reihen der Union spontaner Beifall kam, saß Außenminister Joschka Fischer wie versteinert da. Kein Klatschen, keine Regung.

Eine andere Idee Fischers nahm Chirac dagegen wohlwollend und differenziert auf: die Idee eines Europas zweier Geschwindigkeiten, eines Europas einer Kerngruppe von Ländern, die sich schneller und enger zusammen entwickeln als andere. Chirac nahm die Idee einer europäischen Avantgarde in seiner Formulierung von „Pionier-Ländern“ auf. Deutschland und Frankreich sollten diese „Pionier-Länder“ der Europäischen Union sein und gemeinsam mit anderen in den Bereichen Wirtschaftspolitik, Sicherheit und Verteidigung und Bekämpfung von Kriminalität künftig stärker zusammenarbeiten.

Damit beschrieb er konkrete Themenfelder für eine intensivere Zusammenarbeit. Nicht zufällig nannte Chirac als Beispiel die militärische Kooperation. Frankreich hat stets den Ausbau einer europäischen Sicherheitsidentität forciert – als Gegenmodell zu einer von den USA dominierten Nato. Erst in den vergangenen Wochen hatte die Bundesregierung zugesagt, sich am Bau des Transportflugzeuges Airbus und eines Aufklärungssatelliten zu beteiligen.

Eine institutionalisierte Zusammenarbeit lehnte Chirac gestern aber ab. „Eher sollte man einen flexiblen Koordinierungsmechanismus schaffen, ein Sekretariat, das zwischen den Politiken der Länder für Kohärenz sorgen soll.“

Seinen Vorstoß wollte Chirac ausdrücklich nicht als Veto gegen die Ost-Erweiterung verstanden wissen. Er warnte aber vor einer Aufweichung der Union. Frankreich hat sich der Erweiterung lange verschlossen. Es wollte die Europäische Union in ihrer Struktur und Machtverteilung vor einer zu raschen Öffnung nach Osten schützen. Seither liegt der französische Hauptakzent darauf, das Gewicht der großen Mitgliedsländer in der Union zu stärken.

Als François Mitterand vor sechzehn Jahre seine Rede vor dem Bundestag hielt, trieb ihn die Sorge um Deutschlands Einbindung in Europa um. In der Bundesrepublik ging die Bevölkerung gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen auf die Straße. Mangelndes Engagement kann Chirac den Deutschen, allen voran Außenminister Fischer, schwerlich vorwerfen. Doch es ist kein Zufall, dass er seine Europa-Vorstellungen gerade jetzt darlegt.

Das, was die Beziehung beider Länder lange Zeit unausgesprochen belastete, war auch die Frage, wie es mit Europa künftig weitergehen soll. Das „Was“ bleibt auch nach Chiracs Rede noch ein wenig diffus, über das „Wie“ ließ Chirac gestern keinen Zweifel. Immer wieder beschwor er das deutsch-französische Verhältnis. „Erkennen wir wieder, wie dringend notwendig unser Dialog ist!“