Mexikanische Zeitenwende

Seit Menschengedenken regiert in Mexiko die „Revolutionär-Institutionelle Partei“. Diese Ära ist mit der Wahl von Vicente Fox zum Präsidenten zu Ende

aus Mexiko-StadtANNE HUFFSCHMID

Der Angel de la Independencia, der mexikanische Unabhängigkeitsengel, leuchtet golden in die Nacht. Zu seinen Füßen haben sich Zehntausende versammelt, um ihren „Vicente“ zu feiern. Viele tragen kleine Kinder auf ihren Schultern, fast alle haben ein Fähnchen in der Hand. Ein junger Mann mit Pferdeschwanz tippt Besuchern aufgeregt auf die Schulter. „You know“, teilt er ihnen mit bebender Stimme und in gebrochenem Englisch mit, „we are now living in a democratic country.“ Bis tief in die Morgenstunden dröhnen Tröten und Autohupen durch die Straßen.

Mexiko-Stadt feiert den Wahlsieg des konservativen, wirtschaftsliberalen, populistischen Vicente Fox und Mexiko-Stadt feiert zugleich den Abschied von der 71-jährigen Herrschaft der Revolutionär-Institutionellen Regierungspartei (PRI). Vor deren Parteizentrale stehen ratlos Musiker einer Mariachi-Kapelle auf dem halb leeren Platz, neben sich die eingepackten Pauken und Trompeten. Sie sollten dem PRI-Kandidaten Francisco Labastida zur Siegesfeier ein Ständchen bringen.

Doch mit überraschender Deutlichkeit hat Mexiko ihm den Weg an die Macht versperrt und das Regierungsmonopol der PRI abgewählt. Nur noch 35 Prozent der Wahlbürger machten ihr Kreuzchen bei der Staatspartei, rund 9 Prozent weniger als bei deren rechtsoppositionellem Herausforderer Fox. Immerhin noch rund 16 Prozent bekam der Linkskandidat Cuauthémoc Cárdenas, der vor 12 Jahren durch einen gigantischen Wahlbetrug der PRI um den Sieg betrogen worden war. Trotzdem begann damals der langsame Niedergang der PRI.

Jetzt liegt Fassungslosigkeit und eine eigentümliche Stille über der feierlich herausgeputzten Bühne im großen Konferenzsaal der Parteizentrale. „Wie bei einer Cocktail-Party, bei denen der Gastgeber plötzlich verstorben ist“, meint eine Kollegin. Nach langen Stunden erscheint Labastida. Müllmänner haben schon begonnen, Papier und Plastikbecher zusammenzukehren, als der PRI-Mann seine Niederlage eingesteht: Er werde „die Entscheidung der Bürger respektieren“, sagt er und lächelt tapfer. Als er von der Bühne treten will, wird aus den Sitzreihen spontan die Nationalhymne angestimmt, erst leise, dann laut und trotzig. Manche haben Tränen in den Augen, andere rufen wütend: „duro, duro“, so viel wie „Gib’s ihnen“. Draußen fahren hupende Autos an dem bunkerartigen Gebäude vorbei.

Ein paar Kilometer weiter wird ebenfalls lauthals gesungen, wenn auch in gänzlich anderer Tonlage. Die Menge im Hauptquartier der Partei der Nationalen Aktion (PAN), die Vicente Fox als Präsidentschaftsanwärter aufgestellt hatte, ist in einem Freudenrausch. Stehende Ovationen empfangen Fox, als er sich seinen Weg durch Fans und Medienvertreter bahnt.

Ganz gegen sein hemdsärmeliges Marlboro-Man-Image gibt er sich in der Stunde des Sieges auffällig besonnen: Der „so lang ersehnte Moment der Demokratie“ sei endlich gekommen. Den Behörden dankte er dafür, einen „so sauberen Wahltag“ ermöglicht zu haben. Auch seinen „leidenschaftlichen“ Kontrahenten spricht er seinen Dank aus. Und wenig später sogar dem Präsidenten Zedillo, dessen schnelle Anerkennung des oppositionellen Triumphs ihn „als echten Staatsmann“ ausgewiesen habe. Als er vom Pult treten will, singen ihm die Anwesenden noch voller Inbrunst ein Geburtstagslied – an diesem Wahltag feiert der Wahlsieger seinen 58. Geburtstag.

Die Wahl war als „Superwahl“ bezeichnet worden. Fast 60 Millionen Wahlberechtigte hatten an über 113.000 Wahllokalen nicht weniger als sechs Stimmzettel abzugeben, außer dem Präsidentensessel waren noch fast 1.500 weitere Posten neu zu besetzen. Darunter 500 Kongressmandate und 128 Senatoren (PAN: fast 42 Prozent), in insgesamt acht Bundesstaaten wurden zwei Gouverneure sowie 323 Landtagsabgeordnte und 420 Bürgermeister gewählt, in der Hauptstadt der Bürgermeister sowie 16 Bezirksbürgermeister und 66 Stadtverordnete. Während die PAN bei den Gouverneurswahlen in Morelos und Guanajuato fast 60 Prozent der Stimmen gewann, konnte Andrés Manuel Lopez Obrador von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) – wenn auch knapper als erwartet – die seit drei Jahren amtierende Linksregierung im Hauptstadtdistrikt verteidigen.

Nicht minder erstaunlich als die fast durchgehend PRI-feindlichen Ergebnisse erschien Beobachtern an diesem Sonntag ein weiteres Novum: die Tatsache, dass ungeachtet der zahlreichen Klagen über Stimmenkauf und Manipulation im Vorfeld, von „el fraude“, dem Wahlbetrug, so gut wie keine Rede mehr war. „Schon vom Technischen her war ein Betrug diesmal nicht möglich“, urteilte Wolfgang Kreissl-Dörfler, grüner Vizepräsident des Europaparlaments und Mitglied einer achtköpfigen Beobachterkomission der EU, schon am frühen Abend gegenüber der taz. Eines der wichtigsten Hindernisse für betrügerische Manöver war zweifellos das penible Wahlregister, das das Bundeswahlinstitut (IFE) – selber seit mehr als vier Jahren unabhängig vom Staatsapparat – in jahrelanger Kleinarbeit erstellt hatte und auf dem jeder Stimmbürger eigens mit Passfotos verewigt war.

Mitten im Siegestaumel sind aber auch Zukunftsängste laut geworden. Viele befürchten vom neuen konservativen Präsidenten und seiner Partei Intoleranz und Messianismus, reaktionäre Moral und einen klerikalen Rollback.

Als „völlig absurd“ bezeichnete hingegen der Politologe Jorge Castañeda, ehemals Cardenas-Vertrauter und heute prominentester Berater der Fox-Kampagne, derlei Befürchtungen. Man solle den neuen Präsidenten beim Wort nehmen, wenn dieser eine „plurale Regierung“ in Aussicht stelle, meint Castañeda in der Wahlnacht gegenüber der taz. Natürlich seien es „riesige Erwartungen“, die an Fox gestellt würden. „Aber er hat das Mandat der Menschen auf seiner Seite“, sagt Castañeda und zeigt durch das Fenster auf die jubelnden Menschenmassen an der Engel-Statue. „Und all diese Freude.“