die hälfte der lügen sind unwahr
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von RALF SOTSCHECK

Bei Irlands Kindern und Regierungspolitikern herrscht eitel Freude. Bei den einen, weil das Schuljahr vorbei ist und die Sommerferien begonnen haben, bei den anderen, weil sie die Parlamentspause mit Ach und Krach erreicht haben, ohne wegen Lug, Betrug und Korruption gestürzt worden zu sein. Die Nation staunt jeden Tag über neue Enthüllungen, wie sich die Volksvertreter am Volk bereichert haben.

Am letzten Sitzungstag überstand die Koalition mit ihren eigenen Stimmen ein Misstrauensvotum. Daraus allerdings eine Vertrauenswürdigkeit zu konstruieren, wie es die Regierung versuchte, ist dreist. Sie habe das Vertrauen der Spekulanten, Mietwucherer und Steuerhinterzieher, stellte der sozialistische Abgeordnete Joe Higgins fest. Die stellvertretende Premierministerin Mary Harney von den in Wahrheit gar nicht Progressiven Demokraten, deren Parlamentsratten eine nach der anderen das sinkende Schiff verlassen und sich anderen Parteien anschließen, sagte mit der Logik einer faulen Weintraube: „Irland ist kein korruptes Land, denn sonst würde es keine Tribunale gegen Korruption geben.“ Genauso wenig gibt es demnach Mord und Diebstahl, denn auch dafür gibt es Gerichte.

Bei Politikern kommt der Durchfall aus dem Mund, das hat in Irland Tradition. Früher waren die parlamentarischen Plapperstunden jedoch unterhaltsamer. Meister des unfreiwilligen Entertainment war ein Sir Boyle Roche, der Ende des 18. Jahrhunderts im Dubliner Unterhaus saß. Während die Regierungspolitiker von heute die Opposition als Faschisten beschimpfen und die Medien, die über Korruption berichten, mit der Nazipresse vergleichen, hatte Roche für seine Gegner fantasievollere Metaphern übrig: „Er würde dich vor deinen Augen erstechen und dir dann ein Messer in die Brust rammen, während du ihm den Rücken zugewandt hast.“

Aber er kümmerte sich, im Gegensatz zu seinen verkommenen politischen Erben, auch um die Not auf der Grünen Insel: „Irlands Tasse des Elends läuft seit Jahrhunderten über und ist noch nicht halb voll“, konstatierte er, hatte aber eine Lösung zur Hand: „Irland und England sind wie zwei Schwestern. Ich wünschte, sie würden sich wie ein Bruder umarmen.“ Roche war ein Mann mit Vision: „Auf den nie betretenen Pfaden der Zukunft sehe ich die Fußspuren einer unsichtbaren Hand.“ In Ornithologie war er dagegen weniger bewandert: „Wie kann ich an zwei Orten gleichzeitig sein“, fragte er, „außer ich wäre ein Vogel?“

Roche setzte sich vehement für die Meinungsfreiheit ein: „Wir müssen jeden zum Schweigen bringen, der gegen das Recht auf Redefreiheit ist.“ Er stimmte 1800 für das Gesetz, das die Union Irlands mit Großbritannien besiegelte und das irische Unterhaus abschaffte: „Es ist sicher besser, unsere ganze Verfassung abzuschaffen, um einen Teil davon zu bewahren.“ Dieser weise Satz kann so ähnlich auf die heutige Regierung angewendet werden. Die könnte sich zur Rechtfertigung eines anderen Roche-Zitats bedienen: „Die Hälfte der Lügen, die unsere Gegner über uns verbreiten, sind unwahr.“