MODERNES LESEN: MEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON ELKE SCHMITTER
: da capo

Norbert Miller/Ferdinand von Saar: „Schloß Kostenitz“. Mayer Verlag, gebunden, 156 Seiten, 14 DM

„da capo“ heißt die Reihe im Mayer Verlag, in der Novellen, aber auch Lyrik und Kampfschriften der Literaturgeschichte, begleitet von einem modernen Essay, wieder herausgebracht werden. „da capo“ heißt in der Musik: noch einmal von vorn, für mich als Klavierschülerin zuzeiten ein Schreckensbegriff. In der Regel wird nicht das ganze Stück noch einmal gespielt, sondern nur der zweite Teil, der dann mit einer ausgreifenden und anspruchsvolleren oder das Eingangsthema variierenden Coda schließt. Bei Mayer ist es umgekehrt: Der ausgreifende und anspruchsvolle Essay geht voran; im Falle der Novelle „Schloß Kostenitz“ des österreichischen Erzählers Ferdinand von Saar ein Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Norbert Miller, ordentlicher Professor an der TU Berlin.

Noch einmal von vorn: Das ist das Motiv dieser Reihe, und Norbert Miller nimmt es ernst. Er exponiert von Saar, einen von der Literaturgeschichte nahezu vergessenen Autor, in die Reihe der Begründer jener psychologisch hoch bewussten, stilistisch ausgefeilten und uns schon klassisch erscheinenden Novellen und Romane, die von Storm über Stifter bis hin zu Schnitzler reicht. In einer detaillierten, zugleich hoch gestimmten, gelehrten und zugleich inspirierten Weise erläutert er sein Interesse an dem Autor und seiner Novelle und nimmt mit seinem Eindruck vorweg, was der Leser bald erleben wird: „Wenn man einmal angefangen hat, die ‚Novellen aus Österreich‘ zu lesen, diese Momentaufnahmen aus einem geographischen und politischen Gebilde, zu dem das Vorläufige, die Möglichkeit, die Unbestimmtheit als Voraussetzung gehören, dann wird man nach diesem skeptischen Realismus der Vergeblichkeit süchtig.“

Es ist eine einfache und doch raffiniert konstruierte Geschichte, die Ferdinand von Saar erzählt. Wir lesen sie nicht mehr wie seine Zeitgenossen, aber gerade weil wir auf ihre Themen wie Connaisseurs reagieren, ihre Wetterwechsel zu kennen meinen, ihr Personal uns vertraut ist, lohnt sich die Lektüre des Essays von Miller. Er bringt dem Leser zur Kenntnis, was nur gespürt war und nicht bewusst ist, und er belehrt nicht nur über den Text, sondern auch über unser Bewusstsein. Da capo, da capo.

Solo für viele

Jo Ann Endicott: „Ich bin eine anständige Frau!“. Suhrkamp Taschenbuch, mit vielen Fotos, 180 Seiten, 19,80 DM

Jo Ann Endicott ist Solotänzerin bei Pina Bausch. Ich habe nie ein Stück von ihr gesehen, was ich erst jetzt bedauere – so heftig, dass ich auch eine weite Reise antreten werde, wenn es das nächste Mal möglich ist. Endicotts Buch ist Bausch gewidmet und berichtet von deren Arbeit, aber nicht nur. In der entspannten Form eines Tagebuchs gehalten, gelöst, aber niemals sich verplaudernd, erzählt es von der Körperarbeit des Tanzens, von den obskuren Wegen zwischen Idee und Bewegugn, dem Temperament des Einzelnen und der Choreographie des Ganzen. Wer (wie ich bisher) nicht im Geringsten am Tanztheater interessiert ist, kann dennoch (so wie ich) mit höchster Aufmerksamkeit und Faszinaton auf dieses wunderliche Stück Prosa reagieren, in dem eine Frau von 50 Jahren von ihrem Leben und ihrer Karriere berichtet: in einem konzentrierten, melodischen Ton, mit Pirouetten in der Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist, mit eleganten und kapriziösen Sprüngen weit von der Stange weg, an der die Muskeln trainiert worden sind.

Fast unmöglich zu sagen, was dieses Buch so liebenswert macht; vielleicht ist es die Unbekümmertheit, mit der hier jemand sich ernst nimmt, ohne sich jemals dafür zu entschuldigen, und daher vermutlich die Freiheit hat, sich selbst und die Welt nur da ernst zu nehmen, wo es wirklich und unbedingt sein muss. Dieser Text atmet Energie in jedem Satz, er ist selbst da, wo es Anlass zu Vorwürfen gäbe, nicht urteilend, sondern nichts als bestimmt von der Person, die ihn geschrieben hat: „Anfangs, 1973, war es sehr depremierend, vor leerem Saal zu spielen, vor fast leerem. Wir kriegten natürlich mit, wenn einer den Saal verließ und die Tür hinter sich zuknallte. Damals seid ihr reihenweise rausgegangen. Sogar Tomaten kamen geflogen. Das Wuppertaler Publikum konnte mit uns nichts anfangen. Nix, und das tat weh.“ Das hat sich inzwischen geändert. Und ist, in Endicotts Text, nicht Anlass zu Triumph, sondern zu Glück, in jener reinen Form, die sich das Staunen bewahrt hat. „Es gibt viele deutsche Worte, die ich toll finde, zum Beispiel ‚Geheimratsecken‘, ‚Mundfäule‘, ‚kaputt‘, ‚Wonneproppen‘, ‚Schleim‘, ‚unabdingbar‘, ‚Gierschlund‘, ‚wie auch immer‘ “. – Das Buch ist mit vielen Fotos ausgestattet, so dass auch Nichtzuschauer ein Bild von dem haben, was Endicott erzählt. Trotzdem ist es kein Ersatz, sondern etwas ganz Eigenes und Einzigartiges, wunderlich, charmant und seltsam, verführerisch lebendig und kommunikativ. So was passiert, wenn eine nur von sich erzählt: Man will sofort davon erzählen, weil es so selten vorkommt.

Geistesgrillen

„Wetterleuchten! Künstler-Manifeste des 20. Jahrhunderts“. Edition Nautilus, 95 Seiten, 18 DM

Eine stets ersprießliche Lektüre bietet die „Kleine Bücherei für Hand und Kopf“, die der Nautilus-Verlag herausgibt – diese kleinen, schreiend bunten, immer schönen Hefte im A-5-Format, die in den besten Buchhandlungen griffbereit an der Kasse liegen. „Schneckenbisse der Unvernunft“ hieß der Band 45 von Francis Picabia; manchmal sind es auch Grillen des Geistes. Poetische Texte von Picasso, Erotica des Surrealismus, kleine Essays zur Ökonomie in der ästhetischen Welt von Peter Hacks, „Heftige Gedanken zur Malerei“ von Asger Jorn; obskure wie fällige Klugheiten und verlässlich Augentrost.

Zum Jubiläum der Nr. 50 hat der Hamburger Verlag in eine leicht angestaubte Schatzkiste der letzten Moderne gegriffen und versammelt, was Künstler von Rang, avantgardistische Gewerkschaftler, permanente Revolutionäre, alte Kinder und bewegte Frauen zum jeweilig letzten Programm erhoben haben: „Wetterleuchten! Künstler-Manifeste des 20. Jahrhunderts“. Den Auftakt spielen die Russen, Chlebnikov & Co, indem sie – worauf fast kein Manifest verzichten mag – die ollen Väter und bösen Onkels verhöhnen und all dem, was vorher war, knurrend und bissig den Garaus machen: „Wascht Eure HÄnde, die den schmutzigen Schleim der von Leonid Andrejevs geschriebenen Bücher berührt haben. All diese Massim Gorkijs, Kuprins, Bloks, Kuzmins, Bunins, usw., usw. – sie brauchen nur noch eine Datscha am Fluss. Eine solche Belohnung schenkt das Schicksal Schneidern. Aus der Höhe von Wolkenkratzern blicken wir herab auf solche Nichtigkeit! WIR BEFEHLEN...“ (usf.) Ja, da muss man sich doch einfach hinlegen! Denn ‚die Welt ist zum Ersticken voll‘ (Franz Marc, 1914), und deshalb muss erst mal beiseite geschafft werden, was die Museen und Bibliotheken verstopft, was Orden hat, Auflagen macht und die Konzertsäle füllt. Und es gilt nur das Heute: „Die höchste Kunst wird diejenige sein, die in ihren Bewusstseinsinhalten die tausendfachen Probleme der Zeit repräsentiert, der man anmerkt, dass sie sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ, die ihre Gleider immer wieder unter dem Stoß des letzten Tages zusammengesucht.“ So Richard Huelsenbeck im Ersten Weltkrieg, als Dada in den Zürcher Cafés sein heiter-aggressives Wesen trieb. Es gibt aber keinen Zusammenhang von rhetorischem und historischem Druck – die Manifeste in Friedenszeiten sind keineswegs sanfter gefasst. Wenn überhaupt, dann ist es vielleicht der jugendliche, hormonell gestützte Drang – doch graue Panther gibt es auch in dieser Sammlung, zu viele, als dass sich diese These halten ließe. Ob Trotzki und Breton, Duchamp oder Claes Oldenburg („Ich bin für eine Kunst, die politisch-erotisch-mystisch ist, die etwas anderes tut, als im Museum auf ihrem Arsch zu sitzen“) – die Stimmen werden im Alter nicht leiser, nur rauer. Und nicht einer, nicht einmal Beuys, ist im Manifest auf der eigenen sonstigen Höhe. Es muss mit der Sache selbst zu tun haben.

So ist die Lektüre tragikomisch. Die Welt ist zum Ersticken voll von Manifesten, und es wird immer wieder neue geben, noch lauter, mit noch mehr Pathos und klinisch bereinigt von jedem Humor. Eine bizarre Lehrstunde der Geistesgeschichte hat uns der Nautilus Verlag beschert. Auf ein Nachwort verzichtet er: So muss sich jeder seine Gedanken selber machen. Kann ja auch mal schön sein.

Selbstgespräche

Martin Walser: „Ich vertraue. Querfeldein. Reden und Aufsätze“. Suhrkamp, 166 Seiten, gebunden, 32 DM

Gedanken macht sich Martin Walser schon seit langem selber. Er war einmal ein linker Autor, emphatischer und klüger als viele Zeitgenossen, die über Programmdichtung nicht hinauskamen. Wenn es am Ende des 20. Jahrhunderts eine lohnende Aufgabe war, das unsichtbare Unglück abhängiger Arbeitsverhältnisse darzustellen – diskret und eindringlich zugleich, bis an die Grenze individualisiert und gerade deshalb vorbildlich –, dann hat Walser sie, beispielsweise in „Seelenarbeit“, kunstvoll gelöst. In seinem in der Zeit im Januar erschienenen Aufsatz über Selbstgespräche beschreibt er seine Entwicklung als die einer Eigenermächtigung zu einer persönlichen Sprache. Diese – und die Verletzung, der Mangel, aus dem das Bedürfnis zu sprechen entsteht – sind vielleicht die Hauptmotive seines Werks. Ob die Verweigerung, sich in der Paulskirche durch eine allgemein akzeptierte Sprache funktionalisieren zu lassen – also die Ermächtigung öffentlicher Rede durch einen Verzicht auf persönliche Sprache zu kompensieren –, richtig war, ist eine andere Frage. Die von ihm beabsichtigte Wirkung hat er wohl nicht erzielt. Walser hat immer wieder versucht, eine zweifache Entfremdung zur Sprache zu bringen. Die eine hat historische Züge und ökonomische Gründe. Die andere ist aus der Konstitution eines Empfindsamen nicht fortzudenken: Es ist die Kränkung des Wunsches, dass wenigstens einer von uns so denken möge, wie wir selber von uns denken.

In einer jetzt veröffentlichten Sammlung finden sich der Aufsatz aus der Zeit, die Rede aus der Paulskirche und unter anderem ein Essay über Schüchternheit. Auch wenn man am Ende über den Autor nicht so denkt, wie er über sich denken mag, hat die Lektüre gelohnt.