Nur der Staat kann uns noch retten

Noam Chomsky hat wie immer Recht. Die Welt ist nicht zu kompliziert für linke Kritik. Der Anarchist und berühmte Linguist ist ganz unzeitgemäß misstrauisch. Er demaskiert die neoliberalen Eliten im Westen; sie sind für ihn die modernen Nachfahren der leninistischen Machthaber im Osten

von MARK TERKESSIDIS

Als Noam Chomsky während der „humanitären Katastrophen“ im Kosovo und in Osttimor wieder einmal einige seine beharrlichen Invektiven gegen das „menschenrechtliche“ Engagement der USA aussandte, meinte ein Bekannter ohne Begeisterung: Chomsky hat immer Recht. Einige Zeit später sahen wir den US-amerikanischen Sprachwissenschaftler und bekennenden Anarchisten in einem Belgrader Wohnzimmer – bei einem Interview mit dem regimetreuen serbischen Fernsehsender RTS.

Tatsächlich versteigt man sich beim rechtschaffenen Ekel über die westliche Politik gerne mal auf die andere Seite – zumal man mit dem Richtigen, das man ständig sagt, im eigenen Land ja nie gehört wird. Der „antideutsche“ Konkret-Redakteur Jürgen Elsässer etwa genehmigte Nachdrucke seiner Artikel in Politika, dem Propagandaorgan der Milošević-Regierung. Dass Noam Chomsky dennoch immer Recht hat, zeigen jetzt wieder einmal zwei frisch übersetzte Bücher.

Die Streitschrift „Profit over People“ und die Aufsatz- und Interviewsammlung „Die politische Ökonomie der Menschenrechte“ decken das gesamte Feld von Chomskys Interessen der letzten Jahre ab: Es geht um den Freihandel, die US-Außenpolitik, die Herstellung von Konsens durch die Medien. Chomskys Ansatz ist geprägt von einem gänzlich unzeitgemäßen Misstrauen. Während im heutigen Deutschland selbst kritische Intellektuelle den Marshallplan für einen Akt großherziger Entwicklungshilfe in Demokratie halten, zeigt er, wie dadurch der Rahmen für US-Direktinvestitionen in Europa geschaffen wurde. Zudem gelang es dem US-Staat durch die Marshall-Hilfe, die eigene Agrarwirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen – auf Kosten des ärmeren Argentinien.

Die Folgen des Marshallplanes illustrieren Chomskys grundsätzliche Behauptung, dass sich Länder keineswegs durch das Walten des freien Marktes entwickeln, sondern vielmehr durch eine Mischung aus Protektionismus, massiven staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft und dem Versuch der „Öffnung“ fremder Märkte. Das Paradebeispiel für eine solche Politik bieten die USA. Ausgerechnet unter Reagan, betont Chomsky immer wieder, wurde der US-Markt stärker vor Einfuhren geschützt als je zuvor. Auch für das vergangene Jahrzehnt nennt er Beispiele für schamlosen Protektionismus. So ruinierte die Regierung Clinton 1994 Kenias Textilindustrie, indem sie kurzerhand Importquoten verhängte. 1996 zogen die US-Konsumenten Tomaten aus Mexiko den heimischen Produkten vor: Prompt zwangen die USA dem Nachbarland ein Abkommen auf, dass den Gemüsestrom zum Versiegen brachte.

„Der freie Markt funktioniert, aber mit dem falschen Ergebnis“, resümiert Chomsky sarkastisch. Er zitiert eine UN-Untersuchung von 1994, die besagt, dass die industrialisierte Welt durch die Verletzung des Freihandels in den Entwicklungsländern immense Schäden verursacht – etwa in Höhe der Entwicklungshilfe. Gleichzeitig predigen die USA ihren mittelamerikanischen Nachbarn oder den afrikanischen Reformern unentwegt das Dogma vom Freihandel.

Als negatives Beispiel für den „Erfolg“ dieser US-Strategie gilt Chomsky die katastrophale Situation in Lateinamerika, während die ostasiatischen Staaten seiner Meinung nach gerade deswegen Fortschritte machen konnten, weil sie sich vor solchem „Freihandel“ schützten. Dass auch unter dem Banner des Neoliberalismus subventioniert wird, steht für Chomsky außer Frage. 20 der 100 größten Unternehmen der Fortune-Liste würden ohne zwischenzeitliche staatliche Wiederbelebung nicht mehr existieren.

Im Zentrum verdeckter Unterstützung stehe mittlerweile die Militärindustrie – verkauft werde das Ganze unter dem Aspekt der „Sicherheit“. Gerade in Lateinamerika und der Karibik würden sich die angeblichen US-Sicherheitsinteressen zudem immer wieder gegen Staaten richten, welche auf nationaler Basis eine gerechtere Verteilung des Reichtums anstrebten – allen voran selbstverständlich Kuba. Auch auf den Fall Haiti kommt Chomsky zu sprechen und widerlegt überzeugend, dass die USA dort selbstlos interveniert hätten. Für ihn ist der Staat, der sich „idealistisch“ aufgemacht hat, die „Schurkenstaaten“ zu verfolgen, der eigentliche „Schurkenstaat“.

Chomsky liefert in beiden Büchern eine Menge von Informationen, die kaum einmal an die Öffentlichkeit dringen. Daraus ergibt sich ein weiteres Thema seiner Schriften: die erstaunliche Fähigkeit der westlichen Eliten, für ihre Politik Zustimmung zu organisieren. „Der Neoliberalimus“, schreibt er, „funktioniert am besten in einer formellen parlamentarischen Demokratie, in der die Bevölkerung zugleich systematisch davon abgehalten wird, sich an Entscheidungsprozessen sinnvoll beteiligen zu können.“ Bei den Präsidentschaftswahlen 1996 sei die Wahlbeteiligung in diesem Sinne auf einem Tiefstand angekommen. Tatsächlich verkörpert der Neoliberalismus nach Chomsky eine neue Form leninistischer Elitenherrschaft. Und das könne auch der Grund dafür sein, warum so viele ehemalige linke Dogmatiker als Vertreter der neuen Lehre wiedergeboren worden seien. Und die heutige Linke? Ihrem westlichen Teil wirft Chomsky vor, sie tue seit Jahren nichts anderes als fragen „Was sollen wir tun?“. In der „Dritten Welt“ dagegen würden die Aktivisten fragen: „Ich mache das und das, was hältst du davon?“ Davon könne man sich im Westen ein Stück abschneiden. Für den Anarchisten Chomsky gilt es heute als vordringliche Aufgabe, den Staat zu schützen – denn mittlerweile sei der die einzige Institution, die die privatwirtschaftlichen Tyranneien noch verhindere. Obwohl Chomsky über insgesamt 350 Seiten vor allem die USA als Umverteilungsmaschine von unten nach oben schildert, preist er schließlich den Staat als Rettungsanker an.

Diese Schlussfolgerung wirkt ebenso hilflos wie seine krude Solidarität mit den serbischen Nato-Opfern. Aber man sollte eben nicht zu viel erwarten – Chomsky ist kein Visionär, er macht die Drecksarbeit. Sein Werk ist ein Antidot gegen jene, die stets behaupten, die Welt sei heute zu kompliziert für Kritik geworden. Ganz sicher gibt es weit differenziertere Gesellschaftsanalysen. Aber Chomsky hat eben einfach Recht.

Noam Chomsky: „Die politische Ökonomie der Menschenrechte. Essays“. Trotzdem Verlag, 202 Seiten, 32 DM.ders., „Profit over people – Neoliberalismus und globale Weltordnung“, Europa Verlag, 160 Seiten, 24,50 DM