In der Groteske die Wahrheit suchen

Marxismus, Psychoanalyse und Musiktheorie – wohin sind nur alle diese schönen Theorien gewandert? Das fragt sich der Held in Michael Krügers Dreiecksgeschichte „Die Cellospielerin“. Seine Erlebnisse und Ansichten offenbart der Erzähler mit geradezu herzhafter Mitteilungsfreude
von ELKE SCHMITTER

Wozu das Denken nütze sei, ist eine Frage, die Denkende häufiger umtreibt als jene, die in ihrer Freizeit lieber etwas anderes tun. Die fragen andere eben dies, genau so, wie Väter vor späten Picassos stehen und mit ruhiger Gewissheit sagen, das könne ihre achtjährige Tochter genauso gut. Die anderen aber, die Denker, beschäftigten sich immer wieder damit, ob nicht nur Einzelnes, sondern schließlich die Sache selbst, sofern sie für sich, zum Zwecke der Theoriebildung verrichtet wird, nicht zuverlässig in die Irre führt. Für solche Erwägungen, die der Demütigung sehr nahe kommen, ist nicht zuletzt die Theoriegeschichte verantwortlich – also das organisierte Bewusststein der Irrtümer des Geistes. Ein Bewusstsein, das nicht ohne Wehmut ist.

Denn bei den Rockmoden kann man inzwischen sicher sein, dass alle Längen wiederkommen, man muss nur genügend Geduld aufbringen. Wird aber jemals diese kurrente Verschmelzung von Marxismus, Psychoanalyse und Musiktheorie wiederkehren, die dem aufklärungswilligen Publikum Seminare über „das Triebleben der Klänge als Ausdruck des schlechten Gewissens des industriellen Spätkapitalismus am Beispiel von Strawinsky und Schönberg“ anzubieten vermochten? Ach, diese wunderbaren Siebzigerjahre! Die Homosexualität von Schubert und die Hörverweigerung Beethovens ... „Allesamt Zwangsneurotiker, das war gewiss. Wohin sind alle diese schönen Theorien gewandert?“

Dies fragt sich ein Romanheld. Er ist als Komponist nicht ohne Rang, brütet an einer Oper über den russischen Dichter Ossip Mandelstam und lebt in komfortablen Münchner Verhältnissen. Seinen Missmut über die Gegenwart will er durch eine nachträgliche Illusionierung der Vergangenheit nicht ausgleichen, er verachtet mit guten Gründen den Event-hörigen Kulturbetrieb, gehört ihm nicht an, will dies auch nicht, und macht aus seiner schlechten Laune selten Hehl: „Ein Kind ging vorbei und schaute dem Zeitungsleser, der von den wehenden Feuilletons wie eingeschneit aussah, besorgt ins Gesicht. Hau ab, flüsterte ich durch die Zähne, verpiss dich.“ Sein sexueller Verbrauch jüngerer weiblicher Wesen ist bemerkenswert, seine sozialen Sinne sind verkümmert, und sein Erfinder gibt uns vordergründig wenig Anlass, ihn zu lieben.

Doch achten wir ihn, und die Sympathie stellt sich schnell ein. Da ist zum einen seine Fähigkeit, uns alles, was ihm zustößt, mit geradezu herzhafter Mitteilungsfreude zu vergegenwärtigen. Ob es sich um eine missratene Beerdigung in Osteuropa handelt, die fürsorgliche ungarische Belagerung seiner verhängnisvoll großen Münchner Wohnung oder Begegnungen mit berühmten Kollegen – er schont weder sich noch andere, und er übertreibt so schön, dass wir in der Groteske die Wahrheit sehen. Da ist zum Zweiten der nüchterne Realismus, in dem er sein Selbstbewusstsein beschreibt, mäßig stolz ist er auf sein bisheriges Werk, und mit fröhlichem Spott profitiert er von der Tatsache, dass eine Melodieproduktion für diverse TV-Shows und, vor allem, eine weltweit verbreitete deutsche Kriminalserie (wir stellen uns den ubiquitären „Derrick“ vor) ihm einen dauerhaften und soliden Wohlstand beschert. Schließlich ist er im Umgang mit Frauen, die wissen, was sie wollen, von rührender Hilflosigkeit – ein lebensuntüchtiger Melancholiker von tapsigem Charme. Und aus eben diesem Umstand ergibt sich Krügers Roman, die Dreiecksgeschichte zwischen dem Helden, einer so schönen wie exzentrischen Avantgardesängerin aus Budapest namens Maria und deren Tochter Judit, die den Komponisten gut zwanzig Jahre nach ihrer Geburt – und ihrer Zeugung durch möglicherweise eben ihn – in München heimsucht.

Drei Hauptfiguren, drei Zeiten und drei Schauplätze (der dritte Teil des libidinösen Familiendramas findet in einem Ferienhaus in Südfrankreich statt): Der Roman ist kunstvoll gebaut und stellt doch seine Mittel niemals aus. Unter der erzählerischen Oberfläche von großer rhetorischer Schönheit und einer offensiven Komik, die selbst den Slapstic umfasst, erzählt der Autor auch die Geschichte eines beinahe tragischen Helden: die eines alternden Künstlers, der mit Demut zur Ehre der Größten arbeitet – wie für den von den Stalinisten ermordeten Mandelstam. Die Inquisition eines ganzen Volkes, das Verschwinden Unzähliger in Lagern und die Erinnerung an eine gespenstisch abgedichtete Ideologie gibt der Idylle in Südfrankreich einen sehr düsteren Grundton: „Keiner der Herren der Kultur und des Glaubens, die in den Lagern verhungerten, erschossen oder auf andere Art umgebracht wurden, hatte sich an einer konterrevolutionären Aktion beteiligt, keiner hatte in der Moskauer Metro gerufen: Nieder mit Stalin! oder auf dem Roten Platz Flugblätter verteilt, keiner der deutschen Kommunisten in Moskau hatte heimlich die Sozialdemokraten unterstützt, nein, sie waren alle Gläubige, die von Gläubigen zu Tode gequält wurden, von ihresgleichen.“

Was ist nur eitel, und was ist Herrlichkeit, und wofür hat es sich gelohnt zu leben? Und wenn der Geist so vollständig irren kann wie in den eingangs erwähnten Theorien, ist möglicherweise die Kunst das Eigentliche der Welt, das Ufer der Wahrheit? Nicht eine dieser Fragen wird gestellt, nicht eine wird beantwortet. Es ist eben ein sehr guter Roman.

Michael Krüger: „Die Cellospielerin“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 255 Seiten, 38 DM