Das kleine Informative mit der Maus

Wollen Onlineleser gar nicht lesen, sondern nur klicken? Die erste reine Onlinezeitung Deutschlands hat große Erwartungen an einen neuen Journalismus geweckt. Aber seit drei Wochen veröffentlicht die „Netzeitung“ fast nur Agenturmeldungen

von JUTTA HEESS

Sie brüstet sich damit, die „erste deutsche Internetzeitung“ zu sein. Zwar gibt es bereits regionale Zeitungen, die ausschließlich online erscheinen – zum Beispiel unter www.actuell24.de oder www.regioblick.de. Wenn sie schon in dieser Hinsicht den Mund zu voll nahm, musste man einiges erwarten von der Adresse www.netzeitung.de.

Seit drei Wochen ist sie offiziell online geschaltet und wird von den Internetanbietern Lycos Europe, Spray.net und von Bannerwerbung finanziert. Unter der Leitung des ehemaligen Chefs der Berliner Zeitung und Stern-Stippvisiteurs Michael Maier sind rund 30 Redakteure angetreten, zu zeigen, was wirklicher Onlinejournalismus ist.

Keine schlechten Voraussetzungen, zumal sich die „Netzeitung“ nicht nach einem gluckenden Übermedium richten muss. Und das große Vorbild, die norwegische Internetpostille Nettavisen, bedient unter www.nettavisen.no seit 1996 täglich immerhin über 200.000 Leser. Allerdings gibt es in Norwegen weniger Tageszeitungen und in Relation zur Einwohnerzahl viel mehr Internetnutzer als in Deutschland. Ist tatsächlich auch hierzulande die Zeit reif für die virtuelle überregionale Zeitung? Und: Was kann die „Netzeitung“ dem Netizen bieten?

Noch nicht mehr als alle anderen Onlinemedien. Auch die Internetauftritte der Zeitungen und Fernsehanstalten sowie der großen Webportale zeichnen sich hauptsächlich durch eine freundliche Übernahme der Agenturmeldungen aus und haben an journalistischer Eigenleistung wenig zu bieten. Ein Branchenvorurteil besagt, dass im Netz nicht der profunde Hintergrundbericht zähle, sondern die schnelle Nachricht – das informative Kleine zwischendurch. So greifen auch die „Netzeitung“-Macher auf die Agenturen zurück, um blitzschnell ihre Rubriken zu füllen – selbst für die Demonstration gegen Rechtsextremismus am 9. November schickte die Redaktion in der Berliner Albrechtstraße niemanden ans Brandenburger Tor. Lediglich der dpa-Text wurde zurechtgemeißelt.

Dafür stecken die Mitarbeiter viel Energie in das permanente Ergänzen der Meldungen: Dem Bericht über Claudia Schiffers Anstrengungen, für H&M-Unterwäsche zu werben, veröffentlicht am 16. November um 15.19 Uhr, war knapp fünf Stunden später noch etwas hinzuzufügen: „Ergänzt 20.09 Uhr“ informiert die Unterzeile.

Versprochen war jedoch, dass die Beiträge selbst recherchiert und produziert werden. Ein fast unmögliches Unterfangen im Wettrennen um die hurtigste Internetberichterstattung. Nur in diesem Punkt hat die „Netzeitung“ die Nase vorn: Im Zehnminutenrhythmus wird die Seite aktualisiert, in einer Tickerleiste am rechten Rand von 6 bis 24 Uhr die frischste Ware angepriesen. Den Redakteuren ist keine Verschnaufpause gegönnt – Onlinejournalisten müssen nämlich speedproof sein, wie der ehemalige Chefredakteur von „Spiegel Online“, Hans-Dieter Degler, weiß. Und auch Olav Anders Øvrebø, der norwegische Redaktionsleiter, setzt eher Tempo- statt Inhaltsprioritäten: „Den Flugzeugabsturz in Taiwan hatten wir vor allen anderen.“ Das war am 31. Oktober und die „Netzeitung“ noch in der Probephase.

So hecheln die Redakteure die Themenpalette rauf und runter: Neben Meldungen aus dem In- und Ausland, den Börsen und der Wirtschaft, der Sport-, Universitäts- und Entertainment-Rubrik gibt es ein Ressort mit dem merkwürdigen Titel „Voice of Germany“. Hier soll sich die Kulturabteilung entwickeln, die Perle mit einer „Mischung aus Feuilleton und Kommentar“, wie Michael Maier prophezeit. Doch genau hier geschieht am allerwenigsten. Die Seite sieht – abgesehen vom aktuellen Cartoon – tagelang gleich aus. Fatal, wenn der User das jeweils letzte Update ständig vorgeführt bekommt: „22:23 Dienstag 28. November 2000“. Wird hier bei der Hetzjagd nach Nachrichten die Ausformung eines eigenen Profils, das eine Zeitung nun mal braucht, um Leser zu gewinnen, nicht sträflich vernachlässigt?

Da helfen auch die noch spärlich gesäten Kommentare nicht weiter – lediglich 8 Beiträge in drei Wochen, davon 7 von Michael Maier. Die Agenturen und der Chefredakteur – so viel zum Scherflein, das die „Netzeitung“ zur Meinungsvielfalt beiträgt.

Dass dennoch Potenzial in dem Konzept steckt, beweist die Medienseite. Dort sind die Artikel ausführlicher, nicht ausschließlich dpa-fixiert und immer mit weiterführenden Links versehen – sogar auf die Konkurrenz aus dem Printbereich. Hinter der Rubrik mit dem augenzwinkernden Titel „Altpapier“ verbirgt sich eine tägliche Presseschau – ebenso mit Verlinkungen auf die gedruckte Quelle. Hier werden die Möglichkeiten des Internets ansatzweise genutzt, um dem Leser Informationen zu bieten, die eine gedruckte Zeitung nicht liefern kann.

Die veröffentlichten Leserbriefe zeigen Zufriedenheit an. „Alle wichtigen Neuigkeiten auf einen Blick“, schreibt einer. „Auf einen Klick“ träfe noch besser. Auf das Blättern in einer richtigen Zeiutung möchte man danach erst recht nicht verzichten.

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