In der Schneckentempowelt

Ein Sciencefiction-Roman über politische Antagonismen, wissenschaftliche Doktrinen und das komplexe Verhältnis der Geschlechter: Barbara Slawigs Debüt „Die lebenden Steine von Jargus“

von FRANK SCHÄFER

Wenn ein Debütroman nicht die üblichen Teen- oder Twen-Befindlichkeiten verdoppelt, sondern den eigenen Erfahrungshorizont in Form eines waschechten Sciencefiction-Thrillers transzendiert, und wenn der ausnahmsweise mal nicht in Berlin spielt, sondern auf einem unwirtlichen Steinwüstenplaneten namens Jargus II – dann soll man ihm seine Aufmerksamkeit schenken. Also wohlan.

Irgendwann im dritten Jahrtausend ist Terra mehr oder weniger verwüstet. Die Menschheit hat sich technologisch beinahe auf Star-Trek-Niveau hochgearbeitet, lebt in Sternenkolonien und zerfällt in zwei Machtblöcke: Synarchon und Volga. Synarchon wird diktatorisch von Großcomputern verwaltet. Hier leben die Menschen in größtmöglichem Wohlstand, aber auch in einem Zustand der Entwicklungslosigkeit. Denn die Riesenrechner sagen vorher, dass mit der geringsten Veränderung des Status quo auch eine Verschlechterung der Lebensbedingungen einhergehe. Und hier gibt es auch „Therapielager“, von denen man sich Horrorgeschichten erzählt.

Demgegenüber nun die abtrünnige Republik Volga. Die will ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen und nicht künstlicher Intelligenz überlassen – sei diese auch noch so leistungsfähig. Nicht zuletzt deshalb nagt Volga zwar am Hungertuch, macht dafür aber einen viel lebensfroheren Eindruck. Ähnlichkeiten mit ehemals bestehenden Machtblöcken sind keinesfalls zufällig. Nur dreht die Autorin die Verhältnisse um: Der computergenerierte Kommunismus ist im Roman das überlegene System. Aber gute linke Agitprop bietet das Buch dennoch nicht, denn Erzähler und Protagonisten diskutieren ausgiebig Vor- und Nachteile beider Staatsmodelle – mit dem Resultat: Defizitär ist das eine wie das andere.

Barbara Slawig, promovierte Biologin, Tai-Chi-Chuan-Lehrerin, Übersetzerin und nun also auch Romanautorin, fundiert diesen wohl bekannten politischen Antagonismus dann sehr originell. Sie führt die beiden Systeme auf zwei konkurrierende naturwissenschaftliche Doktrinen zurück, der physikalischen und der Integralbiologie. Während die Integralisten erforschen, „wie man Systeme stabil erhält“, isolieren die Physikalisten ihren Forschungsgegenstand aus dem Gesamtzusammenhang ohne Rücksicht auf die Veränderungen, die ihre Ergebnisse zeitigen. Auch hier lässt sie die Apologeten beider Schulen argumentativ gegeneinander antreten – wiederum gibt es ein klares Remis! Man müsste beide Auffassungen – wie auch immer! – kombinieren können ...

Diese weltanschaulichen Diskurse sind eingebettet in eine schon mal unübersichtliche, aber spannend erzählte Krimihandlung. Die geht so: David Woolf, frisch ernannter wissenschaftlicher Berater der Volga-Regierung, soll Sabotagefälle in einer Forschungsstation auf Jargus II aufklären, in der die lebenden Steine untersucht werden, jene physiologischen Mirakel „mit einem Stoffwechsel auf Siliciumbasis, die aussahen wie rund geschliffene Felsblöcke und sich doch bewegten“. Von ihrer Erforschung erhofft man sich Aufschlüsse über alternative Energiegewinnung. Das gelingt ihm schließlich – mit der tatkräftigen Unterstützung von Jeanne Andrejew. Diese vermeintliche Deserteurin und Schmugglerin, allein erziehende Mutter, messerscharf kombinierende Analytikerin und dann auch noch knallharte Kämpferin gibt Woolf das zweite Rätsel auf. Auch das löst er, rehabilitiert sie damit – womit die sich anbahnende, von vielerlei Missverständnissen immer wieder zurückgeworfene Liebesgeschichte zwischen beiden doch noch zu einem glücklichen Ende kommt. Eine Liebesgeschichte mit verkehrten Rollenklischees allerdings. Hier ist die Frau wortkarg, intellektuell brillant, sie darf sich mehrfach siegreich prügeln und hat sogar noch Spaß daran. Und der männliche Held offenbart sich als allzeit sanfter, mitleidsfähiger, einfühlsamer und auf Moderation bedachter Mensch.

Neben allem anderen bietet dieser wohl durchdachte, facettenreiche Kolportageroman dann also auch noch eine hintersinnige Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen. Damit löst er quasi das Motto ein, ein Diktum Philip K. Dicks, der auf die Frage nach der „Schwäche der Sciencefiction von heute“ antwortete: „Ihre Unfähigkeit, das heikle und komplexe Verhältnis der Geschlechter zu erforschen.“

Barbara Slawig hat sich daran versucht und damit auch gezeigt, in welcher Tradition sie schreibt. Jener Tradition von Sciencefiction-Autoren nämlich, die sich weniger für die technologische Progression an sich interessierten als vielmehr für die damit einhergehenden politischen, philosophischen und sozialen Transformationen.

Nur die lebenden Steine, die in ihrer Schneckentempowelt die Menschen nicht wahrnehmen können, weil die mit ihrer schnelleren Existenzweise an ihnen wie eine Sternschnuppe vorbeirauschen, geben zwar einen schönen Titel und ein nicht minder schönes poetisches, ja nachgerade vanitashaftes Leitmotiv ab. Aber damit hat es sich auch. Als Akteure spielen sie im Grunde keine Rolle.

Barbara Slawig: „Die lebenden Steine von Jargus“. Haffmans Verlag, Zürich 2000, 409 Seiten, 44 DM