Von allen guten Wessis verlassen

Endlich: Alle Zugereisten sind weg. Weihnachten fahren die Muttersöhnchen und auch die -töchterchen nach Ostwestfalen oder in den Schwarzwald, und wir Berliner sind unter uns wie sonst nie im ganzen Jahr. Die Vorfreude eines Eingeborenen

von PHILIP MEINHOLD

Meine Bekannte Katja war sichtlich geschockt. Es ist bereits einige Jahre her, dass sie die Heimreise ins elterliche Bremen verweigerte; sie wollte Weihnachten in Berlin verbringen. Dort, wo sie das ganze Jahr über lebt, hier fühlt sie sich schließlich zu Hause. Ihr erschütterndes Fazit, nachts um halb zwei im Boogaloo: „Weihnachten kann man wirklich nicht weggehen. Da sind ja ausschließlich Berliner unterwegs.“

Genau – was für ein Fest! Alle Jahre wieder tritt ganz Berlin eine Zeitreise an. Es wird noch einmal kuschelig in der Stadt, und das liegt nicht nur an der Feiertagsstimmung. Auf einmal ist Berlin leer und ruhig, fast wie früher. Als die Grenzkontrollen noch Nadelöhre der Hektik waren. Es gibt Parkplätze, und im Schöneberger Café M bekommt man auch abends noch einen Tisch. Berlin wird von der Mitte der Welt wieder zur Insel der Glückseligkeit, im tosenden Meer der Zeit. Keine Staus, kein Stress, die Wiederentdeckung der Langsamkeit. Alle Zugereisten sind weg, wir sind unter uns wie sonst nie.

Ich kann dies heute ganz offen schreiben; wir haben Berlin bereits jetzt fast für uns. Die meisten Weihnachtsheimkehrer blättern in Zeitungen wie dem Donaukurier oder dem Schwarzwälder Boten. Was bei den Eltern halt im Briefkasten steckt. Seit Tagen schon rollt die Rückreisewelle. Alls MfGs sind vergeben, die ICEs überfüllt. Wer keine Platzkarte hat, steht auf dem Gang zwischen Koffern und Rauchern. Zumindest während der ehemaligen Transitstrecke; vorher steigt sowieso niemand aus.

Bundestagsabgeordnete und vermeintliche Freaks, neue Mitte und alte Wehrdienstflüchtlinge, OSI-Studenten und verkrachte Künstler – sie alle treten spätestens am 23. Dezember die Heimreise an. Die letzten Business- und Medien-Yuppies werden Heiligvormittag ausgeflogen. Ganz so, als wäre Quirinius noch Statthalter in Syrien: „Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt.“

Wer von den Zugezogenen zum Fest in Berlin bleibt, hat hier meistens Nachwuchs gezeugt. Oder ist wirklich assimiliert. (Was beweist, dass es mehr türkische Berliner als schwäbische gibt.) Einmal im Jahr – über die Feiertage – ist ganz Berlin eine Replik auf den Zugereisten-Standardspruch: „Ach, echte Berliner gibt’s auch noch? Die trifft man ja wirklich selten.“

Und so ist Weihnachten auch für uns wie Nach-Hause-Kommen. Mit dem Unterschied, dass wir nicht wegfahren müssen. Die Stadt wird nicht nur leer, sondern heimatlich. Berlin ist übersichtlich wie nie: Überall trifft man plötzlich alte Bekannte. Morgens beim Tannenbaumkauf, nachmittags in der Kirche, abends dann in den Cafés. Als gelte es, die eigene Stadt zu erobern, treibt es uns in der Heiligen Nacht auf die Straße. Schon Wochen vorher streichen wir in tip oder Zitty an, wo wir nach der Bescherung noch hingehen können. Zu Stereo Total in die Volksbühne? Zur Weihnachtsausgabe der Reformbühne Heim & Welt? Oder doch zu einer der traditionellen Privatpartys, die jedes Jahr von den gleichen Bekannten gegeben werden? Ab Mitternacht sammelt man sich auch in Cafés und Kneipen. Im „Ex“ treffen sich politische Freunde aus vergangenen Zeiten, in der Pariser Straße ehemalige Wilmersdorfer Abi-Jahrgänge. Manch Kreuzberger landet um 2 Uhr nachts in der Bronx, manch Charlottenburger noch im Far Out, zum erstenmal seit Jahren. Man wählt die Orte zum Heimatgefühl.

Aber Berlin zu Weihnachten – das ist nicht nur eine Reise in die Vergangenheit, sondern ebenso eine in den Konjunktiv: Wie Berlin sein könnte – ohne die Zugereisten aus Wessiland. Keine unangenehmen Dialekte mehr; niemand, der unseren Humor mit Schroffheit verwechselt. Keiner, der einen ratlos anblickt, wenn man auf die Frage nach der Uhrzeit zur Antwort gibt: „Viertel sieben.“ Kein Bonner, der Berlin in London oder New York verwandeln will, und kein Ostwestfale oder Unterfranke, der sich über die Anonymität einer Großstadt beschwert. Niemand, der Prenzlberg oder Friedlhain sagt.

Da möchte manch Weihnachtsheimkehrer sicher trotzig entgegnen: „Dann könnt ihr Berliner auch endlich so unfreundlich sein, wie ihr wollt!“ Aber das sind wir ja gar nicht. Was sich an Weihnachten trefflich beweist: Taxifahrern schenken wir zum Trinkgeld zusätzlich Dosen mit dem Adventsgebäck unserer Mutter. Die U-Bahn-Abfertiger der BVG wünschen über Lautsprecher „Fröhliches Fest!“. Und der Verkäufer der Motz wird sämtliche Zeitungen los.

Drei Tage dauert dieser Ausnahmezustand der Ruhe. Drei Tage, in denen die Zeit einen Joint geraucht hat. Danach nimmt sie wieder Speed. Denn die Rache der Zugereisten ist fürchterlich: Spätestens am 30. Dezember sind alle wieder zurück. Und haben ihre Freunde aus der Heimat gleich mitgebracht; diejenigen, die den Absprung nicht schafften aus Hanau, Hannover, Hildesheim. Über Silvester wollen sie in Berlin was erleben – am Brandenburger Tor, im WMF und im Tresor. Und nun sind wir an der Reihe: Es bleibt uns nichts anderes übrig, als wegzufahren. Es geht nach Dänemark, Marielyst, ins Berliner Silvester-Exil.