Der Jude als Feind

Carl Schmitt gilt als ein bedeutender Staatsrechtler und wird immer noch stark rezipiert. Dabei ist sein gesamtes Werk antisemitisch geprägt

von ULRIKE HERRMANN

War er Antisemit, oder war er es nicht? Und wie wichtig war der Antisemitismus für sein Werk? Zwei Fragen, die sich bei Carl Schmitt dringend stellen. Denn im Unterschied zu anderen Theoretikern des Nationalsozialismus, die als arische Dünnbrettbohrer nach Kriegsende sofort vergessen wurden, ist die Rezeption von Carl Schmitt bis heute ungebrochen. Ja, in den 90er-Jahren kam es zu einer postmodernen Renaissance des „Kronjuristen des Dritten Reiches“.

Der Schmähtitel trifft: Der Berliner Professor für öffentliches Recht hat sich dem Nationalsozialismus hingebungsvoll angedient. 1934 lieferte Schmitt die staatsrechtliche Begründung für die „Röhm-Putsch“-Morde und stieg zum „Reichsgruppenwart“ der Hochschullehrer im NS-„Rechtswahrerbund“ auf. Die Nürnberger Rassengesetze lobte er als eine „Verfassung der Freiheit“, und 1936 organisierte er die juristische Fachtagung „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“. Dort mahnte er an, dass die Bibliotheken von den Werken jüdischer Gelehrter zu „säubern“ seien. Kurz vor dem Krieg verfasste Schmitt dann ein theoretisches Fundament für die Großraum-Ideologie.

Nur ein NS-Opportunist?

Angesichts dieses leidenschaftlichen NS-Engagements erstaunt zunächst, dass sich überhaupt sinnvoll fragen lässt – wie der Historiker Raphael Gross es tut –, ob Schmitts Denken antisemitisch geprägt sein könnte. Zu zwingend scheint die positive Antwort. Doch stattdessen hat sich bis heute die „Opportunismusthese“ gehalten. Schmitt hätte sich nur als Antisemit getarnt, um im Dritten Reich nicht unangenehm aufzufallen.

Für diese Annahme scheint zu sprechen, dass Schmitt mit vielen Juden befreundet war; außerdem hat er sich weder in der Weimarer Republik noch in der Bundesrepublik öffentlich antisemitisch geäußert. Vor allem aber wirkt die Opportunismusthese plausibel, weil ihn auch die Nationalsozialisten für einen windigen Karrieristen hielten. 1936 verlor Schmitt alle Parteiämter, blieb zwar Professor, doch den angestrebten Sitz im Volksgerichtshof erhielt er nicht mehr.

Eines allerdings passte noch nie zur Opportunismusthese: Schmitt weigerte sich bis zu seinem Tod 1985, sich von seinen Schriften aus dem Dritten Reich zu distanzieren – es war gerade auch diese Authentizität, die ihn für viele interessant machte. Es setzte eine rege Wallfahrt in seinen Heimatort Plettenberg im Sauerland ein. Ob der bedeutende Historiker Reinhart Koselleck, der Publizist Johannes Gross oder der spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde: Sie alle ließen sich von Schmitt faszinieren, ohne allerdings seine Demokratiefeindlichkeit zu übernehmen.

Der Betrug der Juden

Schwieriger wurde es für die Schmitt-Rezeption, als 1993 das „Glossarium“ posthum erschien. In diesen Tagebüchern von 1947 bis 1951 wird offenkundig, dass der Staatsrechtler auch nach Kriegsende einen rabiaten Antisemitismus pflegte. Vielleicht Altersstarrsinn, wie die Apologeten hofften? Oder sowieso unerheblich? Schließlich stammen die Hauptwerke fast sämtlich aus der Weimarer Republik, und aus dieser Zeit sind keine antisemitischen Äußerungen bekannt.

Doch dass die Opportunismusthese nicht zu halten ist, hat nun – erst jetzt – Raphael Gross nachgewiesen. Er belegt die antisemitische Kontinuität im Denken Schmitts. Dabei argumentiert Gross begriffsgeschichtlich, und dies in zwei Richtungen. Zum einen zeigt er, wie mühelos Schmitt seine Weimarer Schriften für den nationalsozialistischen Hausgebrauch aktualisieren konnte. Etwa wenn er seine berühmte Freund-Feind-Unterscheidung aus dem Begriff des Politischen ein wenig modifiziert. Galt ihm der Feind schon immer als der „Andere“ und „Fremde“, so wird 1933 daraus der „Andersgeartete“. Wichtig wird nun die Dichotomie von „artgleich“ und „artfremd“. Schon diese rasanten Begriffskarrieren sprechen nicht für einen plötzlichen Theoriewandel im Jahre 1933.

Erhärtet wird dies durch die zweite, entscheidende Richtung der Untersuchung: Gross weist nach, wie Schmitts Gesamtwerk – ohne die Juden zu nennen – in den Konnotationen judenfeindlich ist. Dabei speist sich Schmitts Aversion sowohl aus der französischen Gegenrevolution wie aus dem Denken der Junghegelianer, besonders von Bruno Bauer. Neben dieser katholisch und protestantisch geprägten antijudaistischen Tradition des 19. Jahrhunderts nimmt Schmitt auch den modernen rassistischen Antisemitismus auf, der sich gerade gegen assimilierte Juden richtet. In ihnen sieht er die egoistischen Beschleuniger der Moderne. Die demokratische „Herrschaft des Gesetzes“ bedrohe Staat und Ordnung; implizit lässt Schmitt anklingen, dass daran nur die Juden als existenziell „bodenloses Volk“ interessiert sein können: „Wer Menschheit sagt, will betrügen!“

Dank der überzeugenden Studie von Gross ist anzuerkennen: Carl Schmitt war Antisemit – und sein Werk ist davon geprägt. Doch was bedeutet dies für die weitere Rezeption? Gross selbst formuliert die denkbar stärkste These: Wer den Antisemitismus Schmitts ausklammere, der „konzentriert sich auf einige banale oder jedenfalls weitverbreitete Einsichten, die gerade nicht den Kern seines Denkens betreffen“. Nach Gross hat sich also der Versuch erübrigt, Schmitts Werk auch heute noch als philosophische und staatsrechtliche Anregung zu begreifen. Ab in die staubige Gruft der Archive.

Nun ist dieses sehr eindeutige Urteil allerdings nicht durch eine Gesamtschau von Schmitts Werk fundiert. Stattdessen hat sich Gross darauf beschränkt, die Konnotationen einzelner Begriffe historisch zu verfolgen. Wie sollen diese punktuellen Untersuchungen eine Aussage darüber ermöglichen, ob die antisemitische Grundorientierung der vielgesuchte „Kern“ der Schmittschen Theorie sein könnte?

Gross führt zwei Argumente an. Zum einen hat seine Methode ein bedeutsames Vorbild: Schmitt selbst. Auch er verstand sich vor allem als Begriffstheoretiker und bemühte sich nicht allzu sehr um Systematik. Zu Recht konstatiert Gross: „Überhaupt waren es weniger Schmitts Fähigkeiten zur konsistenten Theoriebildung als vielmehr seine polarisierenden Begriffe, die seine Texte attraktiv machen: Diskussion und Dezision, Freund und Feind, Legalität und Legitimität, Nomos und Gesetz, Land und Meer, Katechon und Antichrist.“

Zum anderen, noch wichtiger, wurden diese Begriffe nicht nur in einer „geradezu provozierenden Scheinklarheit“ (Gross) verwandt: Schmitt verstand sie zudem als „polemische Begriffe“. Neutrale, „objektive“ Wissenschaft gab es für ihn nicht; Wissenschaft war stets der Krieg gegen einen konkreten Feind. Und wenn als Schmitts zentraler Feind der Jude identifiziert ist, dann – so folgert Gross –, ist es nur konsequent, das Gesamtwerk als antisemitische Waffe zu deuten.

Gross hat also eine Forderung eingelöst, die gerade konservative Schmitt-Apologeten erheben: Er hat ihn ernst genommen. Allerdings zu ernst. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass Schmitt nur ein Theorieziel kannte, nämlich die Juden zu bekämpfen: Selbst dann ist der Blick von außen weder überflüssig noch zwingend vorgeprägt. Einem Interpreten eröffnen sich stets andere Deutungsmöglichkeiten als dem Autor. Zudem entwerten Schmitts Antworten nicht seine Fragen, die bis heute aktuell sind: die Frage nach der Herkunft von modernen Begriffen wie Staat und Souveränität, die Frage nach der Legitimität und Durchsetzbarkeit von Gesetzen, das Problem des Ausnahmezustandes, die Frage, was eine säkularisierte Gesellschaft zusammenhält.

Es bleibt also unentschieden, ob der Antisemitismus der Kern des Schmitt’schen Denkens war – und was dies für die Rezeption bedeutet. Beides kann nur die weitere Forschung zeigen. Doch ist es der wertvolle Beitrag von Gross, dass er künftige Interpreten gezwungen hat, diese Fragen endlich zu stellen.

Raphael Gross: „Carl Schmitt und die Juden“. 442 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 54 DM