Mehr Zeit für das gepflegte Gespräch

Online-Chats sind beliebter als alles andere im Internet. Millionen sitzen stundenlang an den Tasten ihres Computers, besonders dann, wenn am anderen Ende ein Popstar die Fragen beantwortet. Aber auch hoch qualifizierte Fachleute haben inzwischen diese Art der Diskussion schätzen gelernt

von JUTTA HEESS

Kein Schauspieler oder Musiker, der sich nicht schon mal seiner Fangemeinde in einem Chat gegenübersah. Und sich dabei Kurzantworten auf Beiträge wie „ich find dich süß!“ oder „hallo! wie kommt man zum film? *ggg*“ ausdenken musste. Promi-Chats stehen hoch im Netzkurs – kein Wunder, so können die meist jugendlichen SurferInnen ihren Vorbildern halbwegs unmittelbar begegnen. Das Bedürfnis nach dieser Art der Kommunikation ist enorm: Laut einer Online-Studie von ARD und ZDF sind 78 Prozent der 14- bis 19-jährigen Internetnutzer in Deutschland mindestens einmal wöchentlich in Chats, Foren oder Newsgroups zu Gast.

Ist der Prominente an der Tastatur eher ein Auslöser für kurzweiliges, schwärmerisches Netzrauschen, so werden Fachleute aller Sparten gern wegen ihres Wissens befragt. Zum Beispiel können User auf der Homepage der Wirtschaftswoche unter www.wiwo.de oder beim Fernsehsender n-tv unter www.n-tv.de Börsen-Spezialisten die neuesten Aktienempfehlungen entlocken. Experten-Chats sind in der Regel gut besucht – der persönliche Ratschlag eines Gurus ist heiß begehrt. Seiten wie www.texxas.de und www.webtimer.de tragen dem wachsenden Interesse am Cybergespräch mit Kennern Rechnung und geben Überblick über Netz-Events, sodass niemand eine qualifizierte Beratung über Kinderkrankheiten oder Sternzeichen verpasst.

Doch wie ergiebig sind diese Veranstaltungen tatsächlich? Bei gut besuchten Chatrooms führen die Fragen oft ins Nichts, einfach weil der Experte an der anderen Seite mit den Antworten nicht hinterherkommt. Ein Chat ist eigentlich eine denkbar schlechte Umgebung für eine fachliche Diskussion. Die Beiträge schwirren in das Fenster hinein, und wenn sie nicht untergehen, dann muss der Fachmann mühsam deutlich machen, wem er gerade antwortet: „thomas, auf ihre frage weiter oben . . .“ Thomas ist aber vielleicht gar nicht mehr da, weil ihm das Getümmel zu bunt geworden ist.

Etwas geordneter geht es dagegen in Liveforen zu. So stehen etwa unter www.3sat.de/kulturzeit – der Website eines täglichen TV-Magazins – regelmäßig Experten aus Kultur und Wissenschaft nach einem Gespräch in der Sendung auch am Keyboard eine Stunde lang Rede und Antwort. Der Vorteil solcher Liveforen gegenüber den Chats: Sie sind diskursiver. Der Befragte kann auf jeden Beitrag gezielt Bezug nehmen – seine Antwort erscheint unmittelbar unter der gestellten Frage. Daraus ergeben sich oft kleine Zwiegespräche innerhalb des Forums, da der User noch einmal nachhaken oder eine weitere Frage stellen kann. Andere Teilnehmer schreiben neue Beiträge, klinken sich in bereits eröffnete Forumszweige ein oder beginnen, untereinander zu diskutieren. Dabei kann es allerdings passieren, dass aktuelle Beiträge weit versteckt im unteren Bereich des Fensters landen.

Ein weiterer Nachteil ist, dass sich das Forum nicht automatisch aktualisiert, sondern neue Fragen erst nach einem Klick auf den Reload-Button sichtbar werden. So sorgt das technische Fossil von selbst dafür, dass die Unterhaltung mit dem Experten etwas gemächlicher vonstatten geht – und damit die eine oder andere Antwort ausführlicher ausfällt.

Statt Plapperchaos das gepflegte Gespräch also. Man lässt sich in eine virtuelle Unterhaltung verwickeln: der Soziologe Detlev Claussen über die BSE-Krise, die Literaturwissenschaftlerin Gertrud Höhler über Frauen in Führungspositionen und der „The Thing“-Gründer Wolfgang Staehle über die kulturellen Aspekte des Internets. Zum Bersten voll sind diese Veranstaltungen selten – doch für eine angeregte Diskussion reichen zehn Teilnehmer allemal. Und nach Abschluss der Sprechstunde verschwindet das Skript nicht im Cyberspace wie bei den meisten Chats, sondern bleibt noch einige Tage zum Nachlesen online abrufbar – und den Experten gefällt es so gut, dass sie meistens einen Ausdruck der digitalen Unterhaltung mit nach Hause nehmen wollen.

Aber auch Erstaunen über diese Form des Expertengesprächs wird schon mal geäußert: „Das ist ja gar kein richtiger Chat“, beschwert sich ein Forumsteilnehmer, der wohl eher auf einen Fast Talk eingestellt war. Und wundert sich darüber, dass selbst im Internet die Langsamkeit wiederentdeckt werden kann.

pechlucky@taz.de