Tödlich banal

Viele Morde bleiben in Deutschland unentdeckt – weil die Ärzte Verbrechen nicht erkennen und der Staat nicht genug Geld für Obduktionen hat. Das hält Sabine Rückert für einen Skandal

von ULRIKE HERRMANN

Die Wirklichkeit ist banal – jedenfalls banaler als ein Krimi. Was in Büchern mühsam ertüftelt wird, ist in Wahrheit ganz einfach: der perfekte Mord. Als Hausmittelchen eignet sich das Pflanzenschutzmittel E 605. Damit es niemand versehentlich verschluckt, ist es blau gefärbt, schmeckt und riecht unangenehm. Doch sind diese sinnlichen Warnhinweise leicht zu kaschieren, wie eine Hausfrau aus Kempen bei fünf Morden herausgefunden hat. Man muss nur Heidelbeersoße mit ungefähr zwanzig Tropfen E 605 versehen, stark zuckern und zu Pudding reichen. Schon stellte sich bei drei Ehemännern, bei Vater und Tante ein Pseudo-Herzinfarkt ein. 1983 überführte sich die Mörderin selbst, als sie einer unliebsamen Schwiegertochter den Tod androhte.

E 605 hat übrigens einen Makel: Es bleibt jahrelang nachweisbar. Viel perfider ist es, eine Überdosis Insulin zu spritzen. Das ist absolut tödlich – und hat sich schon nach vier Stunden zersetzt. Mörder gehen aber auch sicher, wenn sie nur den gängigen Vorurteilen vertrauen: Stirbt ein Baby, war es bestimmt „plötzlicher Kindstod“. Endet ein Auto am Baum, wird Selbstmord angenommen; bei Drogenabhängigen erscheint der „goldene Schuss“ nahe liegend; verscheidet ein Pflegefall, so hat man ja genau das lange erwartet; Alkoholiker sterben selbstverständlich an Organversagen, und auch bei Obdachlosen kann ein Tod nicht erstaunen – bei dem Lebenswandel ...

Doch ist ein perfekter Mord gar nicht nötig, um als Täter zu entkommen. Im Gegenteil: Häufig werden selbst Indizien wie Würgemale am Hals von den Leichenbeschauern übersehen. Rechtsmediziner schätzen, dass höchstens die Hälfte aller Tötungsdelikte erkannt werden. Die anderen Opfer, 1.200 bis 2.400 pro Jahr, werden umstandslos ins Grab gesenkt.

Nun wäre all dies voyeuristisch ergiebig, aber unerheblich – wäre nicht die Politik daran schuld, dass Morde unentdeckt bleiben. „Tote haben keine Lobby“, diesen Titel wählte die Journalistin Sabine Rückert programmatisch, um einen Skandal des Desinteresses anzuprangern.

Der nonchalante Umgang mit den Toten beginnt schon bei der Leichenschau. Sie wird meist vom Haus- oder Notarzt durchgeführt – die beide von Pathologie keine Ahnung haben. Eine Studie in Görlitz, noch zu DDR-Zeiten erstellt, untersuchte die Erfolgsquote: In 40 Prozent aller Fälle wurde die Todesursache völlig falsch, bei 20 Prozent teilweise falsch angegeben. Aber mit welcher Diagnose auch immer: Mit Verve wird für einen „natürlichen“ Tod plädiert. Nur bei fünf bis zehn Prozent aller Leichen ringen sich die Ärzte dazu durch, auf dem Totenschein „nicht natürlich“ oder „ungeklärt“ anzukreuzen. Diese Entscheidung wird ihnen auch nicht leicht gemacht: Da sind die Verwandten, oft ebenfalls Patienten des Arztes, die es als kränkenden Verdacht erleben, wenn ihr Familienmitglied nicht normal verschieden sein soll. Da ist die Polizei, die zum Leichenfundort ausrücken muss. Dies ist auf dem Land mit den weiten Anfahrtswegen, aber auch am Wochenende unbeliebt. Ärzte erleben immer wieder, dass sie von der überlasteten Polizei gedrängt werden, doch bitte eine „natürliche“ Todesursache festzustellen.

Aber auch wenn der Tod als ungeklärt oder nicht natürlich gilt, beantragt die Polizei nur selten eine Obduktion. Schließlich kostet die 600 bis 700 Mark. Dies wirkt allzu leicht wie rausgeschmissenes Geld, wenn es doch nur Herzversagen war. Also kommen nur ein bis zwei Prozent der Toten in die Gerichtsmedizin; sechs Prozent werden in Kliniken untersucht. Mit der skurrilen Konsequenz, dass etwa alle drei Tage in der Bundesrepublik ein Leichnam exhumiert wird, um die Todesursache doch noch zu ermitteln – weit öfter als in jedem Nachbarland.

Beispielhaft ist etwa Österreich: Dort dürfen nicht die erstbeste Mediziner den Totenschein ausfüllen, sondern nur spezialisierte Gemeinde- oder Amtsärzte. Gleichzeitig beträgt die Obduktionsrate 20 Prozent. Entsprechendes fordert Rückert auch für Deutschland – als „das Mindeste“: Fachleute für die Leichenschau und eine Autopsie bei allen unklaren Todesumständen.

Doch dazu wird es wohl nicht kommen; eher werden die Länder einige der 29 rechtsmedizinischen Institute schließen, um ihre Haushalte zu sanieren. Ein Kalkül, hinter dem sich Dunkles verbirgt? Dies vermuten jedenfalls Fred Sellin und Klaus Weber, die ihr Fast-Plagiat von Rückert wenigstens mit einer Verschwörungstheorie aufpeppen. Die beiden freien Journalisten ahnen dunkel, dass sonst „die Erfolgsstatistiken der Kriminalpolizei neu geschrieben werden müssten“. Vorbei wäre es mit der Rekordaufklärungsquote von 95 Prozent, wenn alle Tötungsdelikte erkannt würden.

Das klingt plausibel für Agatha-Christie-Leser: Mehr Taten macht mehr Polizisten, die ausschwärmen müssen, um in mühsamen Indizienketten herauszufinden, dass es doch nicht der Gärtner war. Nicht jeder Ermittler ist ein genialer Hercule Poirot; da scheint es einleuchtend, dass die Fehlerquote mindestens ebenso steigen muss wie die Zahl der Fälle. Nur: Die Wirklichkeit ist eben banaler. Im realen Leben wird oft der Nächste getötet – meist in einer Verirrung der Gefühle, gelegentlich aus Habgier. Der Mord an Unbekannten ist selten und kommt noch am ehesten bei Sexualdelikten vor. Wird ein Tod also erst einmal als gewaltsam eingestuft, muss die Polizei oft nicht lange suchen, um den Schuldigen im Bekanntenkreis des Opfers zu finden. Um die Aufklärungsquote also braucht sich niemand zu sorgen.

Aber Sellin und Weber bieten ja noch eine zweite Verschwörungstheorie: Der Staat begrenze die Obduktionen, um die Folgekosten zu minimieren. Unter anderem wolle er bei den Gefängniszellen sparen. Wie düster! Und nicht einmal unwahrscheinlich – bis man sich erinnert, dass die Knäste auch deshalb überfüllt sind, weil dort viele ihre Geldstrafen absitzen, die sie nicht bezahlen können.

Paradox: Für die drakonische Bestrafung von Bagatellvergehen reichen die Mittel immer – nicht aber, wenn es Tötungsdelikte zu entdecken gilt. Das hat durchaus zynische Logik. Denn erstens sind die Opfer tot und können sich nicht beschweren. Zweitens ist Prävention nicht möglich. Jeder kann zum Mörder werden. Zudem ist eine Wiederholungsgefahr fast nie gegeben; die meisten töten nur einmal. Serienmorde sind selten. Nur bei Rückert und Sellin/Weber nicht. Dort füllen sie ganze Kapitel. Überhaupt diese vielen Fallgeschichten, die selbst bei Rückert manchmal die politische Analyse verdrängen: Sie strengen an; der aufgenötigte Voyeurismus langweilt. Eben weil die Realität so viel banaler ist als Krimis.

Sabine Rückert: „Tote haben keine Lobby“, 304 Seiten, Hoffmann und Campe, Hamburg 2000, 39,90 DM (20,40 €)Fred Sellin/Klaus Weber: „Todesursache: natürlich“, 255 Seiten, rororo, Hamburg 2001, 16,90 DM (8,64 €)