Sanierung auf Kosten der Armen

Die neue Regierung von Mexiko will mit einer radikalen Steuerreform die Abhängigkeit vom Ölexport vermindern und Geld für Sozialprogramme einnehmen. Gewerkschaften und Intellektuelle protestieren. Feuerprobe für Präsident Vicente Fox

aus Mexiko ANNE HUFFSCHMID

Das „neue“ Mexiko ist vor allem eine Geldfrage. Das muss die neue Regierung unter Vicente Fox ihren Landsleuten dieser Tage beibringen: Mit einer groß angelegten Kampagne wirbt sie für die vermeintlichen Vorzüge einer radikalen Steuerreform. Keine leichte Mission: Um die Staatsfinanzen aufzubessern, sollen die Mexikaner erheblich zur Kasse gebeten werden – und zwar eher die schlechter als die besser Verdienenden.

Bis heute betragen die Steuereinnahmen in Mexiko gerade mal elf Prozent des Bruttoinlandprodukts, eine der niedrigsten Steuerquoten der Welt. Vergleichbare Schwellenländer wie Argentinien und Brasilien haben ein Steueraufkommen von jeweils über 30 Prozent. Im Zentrum des Steuerpakets steht das umstrittene Vorhaben, die 15-prozentige Mehrwertsteuer auch auf bislang abgabenfreie Nahrungsmittel und Medikamente zu erheben. Im Gegenzug soll der Spitzensteuersatz für Privatpersonen von derzeit 40 auf 32 Prozent gesenkt werden, um die Steuermoral der besser Verdienenden zu heben. Unternehmenssteuern würden zwar von 30 auf 32 Prozent angehoben, dafür entfiele aber künftig die fünfprozentige Abgabe auf Dividenden. Damit sollen vor allem Großbetriebe wieder verstärkt in die Pflicht genommen werden; viele der 250.000 registrierten Betriebe deklarieren in Mexiko seit zehn Jahren Nulleinnahmen oder gar Verluste.

Allen ist klar, dass der Staat Geld braucht, vor allem für Reformen bei der Sozialpolitik und dem Föderalismus. Auch die Abhängigkeit von den extrem schwankenden Erdöleinnahmen gilt als prekär. Über das Wie scheiden sich jedoch die Geister erheblich. Die Kritiker geißeln den „brutal regressiven“ Charakter der Verbrauchssteuererhöhung, so der Sozialexperte und ehemaliger Fox-Berater Julio Boltvinik, da Arme im Unterschied zu besser Gestellten bekanntlich einen ungleich größeren Anteil ihrer mageren Einkünfte für Konsumgüter ausgeben. Die Ankündigung, dass die rund fünf Millionen Sozialhilfebezieher zum Ausgleich alle zwei Monate einen Scheck über umgerechnet rund 20 Dollar erhalten sollen, wird von Experten für wenig praktikabel gehalten. Wie Boltvinik vorrechnet, würden mit der Steuerreform die Einkommen des ärmsten Zehntels um 8,7 Prozent sinken, die des reichsten Zehntel hingegen nur um 3,1 Prozent. Zeitungen nennen die Mehrwertsteuer „moralisches Unrecht“. Zudem kritisieren unabhängige Ökonomen wie Enrique Dussel Peters, dass bislang keinerlei konkrete Pläne vorliegen, endlich den seit Jahren boomenden Exportsektor zur Kasse zu bitten. Auch die Forderung nach einer Besteuerung von Privatvermögen, Börsengewinnen oder Kapitaltransaktionen ist in dem vorliegenden Entwurf nicht berücksichtigt.

Nach der gescheiterten Befriedung des so genannten Chiapas-Konflikts gilt die Steuerreform als Feuerprobe für die Fox-Regierung. Denn auf sichere Mehrheiten im Kongress kann sich Fox, anders als seine Amtsvorgänger der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), längst nicht mehr verlassen. Ausgerechnet die ehemalige Staatspartei, die die Mehrwertsteuererhöhung von 10 auf 15 Prozent im Jahre 1995 noch widerstandslos mitgetragen hatte, hat diesmal ihren Widerstand gegen die „unsoziale“ Reform angekündigt.

Aber auch anderswo regt sich Protest. Mit dem Vorhaben, künftig Druckerzeugnisse wie Bücher und Periodika zu besteuern, hat Fox nahezu alle namhaften Kulturschaffenden und Intellektuellen gegen sich aufgebracht. Und die mexikanischen Gewerkschaften haben ihre diesjährige Mai-Kundgebung unter den Slogan „Nein zur Mehrwertsteuer“ gestellt. Die Zusicherung des Präsidenten, dass die Reform „die Arbeiter nichts kosten wird“, erntete bei dessen Mai-Ansprache nur ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert. „Heute hat die Regierung geschafft, was der Gewerkschaftsbewegung jahrzehntelang nicht gelungen ist: die gewerkschaftliche Einheit“, sagte die junge Stewardess und Abgeordnete, Alejandra Barrales.