ARGENTINIEN SOLLTE SICH VON DER NEOLIBERALEN POLITIK VERABSCHIEDEN
: Umverteilung von unten nach oben

Buenos Aires erwachte gestern wie an einem Sonntag. Schon in der Nacht wurde es still in der Stadt, Busse und Züge kehrten fahrplanwidrig in die Depots zurück. Der Generalstreik war die logische Folge der Sparpolitik von Präsident Fernando De la Rúa, der vor allem Gehaltskürzungen vorsah. Leider ist von den peronistischen Gewerkschaften nicht mehr zu erwarten als ein Streikaufruf. Dabei gäbe es durchaus Bedarf an einer Gewerkschaftsbewegung, die mehr kann, als Sprüche zu klopfen.

Die Situation in Argentinien ist aussichtslos. Das Land ist zahlungsunfähig, die Auslandsschuld in Höhe von 130 Milliarden Dollar unbezahlbar. Die Anleger fürchten um ihr Geld, die Zinsrate erreicht Schwindel erregende Höhen. Damit ist der Zugang zu neuen Krediten für Argentinien versperrt. Gleichzeitig hält die Rezession seit drei Jahren an, sinken die Steuereinnahmen – Argentinien ist gezwungen, sich entweder für zahlungsunfähig zu erklären oder radikal zu sparen.

Mit De la Rúas neuem Sparprogramm wird dem Schuldendienst alles untergeordnet. Diese Radikalkur führt zu einer Umverteilung von unten nach oben. Es werden die Renten und Gehälter der Staatsangestellten gekürzt, anstatt ein neues Steuersystem einzuführen, das für eine gleichmäßigere Verteilung der Einkommen sorgt. Gleichzeitig nutzt die Privatwirtschaft die Krise, um ebenfalls die Gehälter zu kürzen: „Wem das nicht passt, der kann ja gehen.“ Pure Erpressung, denn einen neuen Job findet kaum jemand.

Die Peso-Dollar-Parität wurde vor zehn Jahren eingeführt, um die Inflation in Argentinien zu beseitigen. Dies ist gelungen, die Währung ist stabil, ausländische Investoren stecken sich Dollargewinne in die Tasche. Die Argentinier der Unter- und Mittelklasse machten aber eine seltsame Entdeckung: Trotz der Währungsstabilität wird ihr Geld entwertet. Während die Preise für Transport und die Grundversorgung langsam steigen, sinkt ihr Lohn durch Abgaben und Gehaltskürzungen.

Es bleibt Argentinien nichts anderes, als sich für zahlungsunfähig zu erklären und seine Währung abzuwerten. Dies könnte womöglich eine neue lateinamerikanische Finanzkrise auslösen – und wäre doch nur die logische Konsequenz einer neoliberalen Stabilitätspolitik, die unbezahlbare Schulden angehäuft hat. Diese Schulden sind eine Bürde – aber sie können auch als Waffe bei den Verhandlungen mit den Gläubigern dienen. Dafür braucht es allerdings eine politische Vision, die über das freie Funktionieren der Marktkräfte und Währungsstabilität hinausgeht. Nur die fehlt momentan in Argentinien. INGO MALCHER