Der Gezähmte

aus Bonn MATTHIAS URBACH

Vierzehn Eisbären mit Handy und Tagungsausweis pilgern Richtung Maritim-Hotel. Unter einem der weißen Kostüme schwitzt der Umweltschützer Stephan Singer, der hier mit seinen Kollegen vom World Wide Fund for Nature (WWF) ein Protestplakat ausrollen will. Doch trotz seines Ausweises lassen ihn die Polizisten an der letzten Absperrung nicht durch, er kommt nicht hinein ins Tagungshotel des Bonner Klimagipfels.

Also wird das Transparent direkt hier auf der Hauptstraße entrollt. Zwanzig Meter lang und 1,50 hoch: „Real leaders don't walk away from global warming“. Zwar kommen hier nur wenige Delegierte vorbei, doch die ersten Kameraleute stürzen sich schon auf die kleine Gruppe. Eine Stunde will sie hier stehen, nach zehn Minuten schon werden Stephan Singer die Arme schwer. Doch er ist glücklich: „Endlich wieder etwas tun.“

So stellt man sich Umweltschützer vor: immer unterwegs, um gegen Umweltsünder zu protestieren, mal im Schlauchboot, mal zu Fuß in bunten Kostümen. Doch so arbeitet nur noch eine Minderheit. Viele sind Lobbyisten – wie Stephan Singer. Im Augenblick im Bärenfell, meistens im Anzug. Nach der Aktion trägt der groß gewachsene Mann mit angegrautem Vollbart einen etwas aus der Mode gekommenen Zweireiher. Abends wird er ihn so eilig abstreifen wie zuvor das durchgeschwitzte Bärenfell. „Endlich runter mit dem Zeugs.“ Das wird nicht vor zehn Uhr sein.

Dies ist Singers siebter Klimagipfel. Seit zwei Jahren ist er Klimadirektor des WWF Europe. Nach der Einschätzung von anderen Umweltschützern gehört er zu den „zehn großen Köpfen der internationalen Klimabewegung“.

Ein Lobbyist muss vor allem reden. Eigentlich redet Singer den ganzen Tag – mit Umweltschützern, Delegierten, Journalisten und anderen Lobbyisten. Die Fisherman’s Friends immer griffbereit in der Sakkotasche. Die wichtigsten Botschaften des Tages werden morgens abgestimmt. Man will eine einheitliche Sprache sprechen. Eigentlich ist Singer gar nicht für Medienkontakte zuständig. Doch er hält sich an die goldene Regel. „Schicke niemals einen Journalisten weg.“ Und die suchen ihn gerne auf. Nicht nur, weil er der WWF-Experte für die so genannten Senken ist, Baumanpflanzungen, durch die Kohlenstoff gebunden werden soll. Sie sind der größte Streitpunkt auf diesem Gipfel. Singer erklärt plastisch seine Position. Mit Engelsgeduld beantwortet er immer wieder dieselben Fragen. „Wie ist das mit den Senken?“, „Was bedeutet Artikel 3.4?“, „Und was wollten die Japaner?“

Er kann nicht nein sagen

Pech, wenn ihn ein Journalist vor dem Pressezentrum abfängt, denn es kommt schnell ein zweiter, ein dritter – und ehe er sich versieht, gibt Singer eine kleine Pressekonferenz. Auch anderen gibt Singer stets geduldig Aukunft, selbst wenn er gerade auf dem Weg zu einem Termin ist. Nur sein Körper verrät mit Ausweichbewegungen, das er auf dem Sprung ist. Singer kann nicht nein sagen.

Eigentlich zielt Singers Arbeit mehr auf die europäischen Delegierten. Dort gilt es herauszufinden, welche Strategie die EU fährt, wo sie Kompromisse eingehen will. Um dann gegenzuhalten oder die Minister auf mögliche Schwächen ihrer Strategie hinzuweisen. Die EU ist sehr interessiert an der Meinung der Umweltgruppen. Sie repräsentieren für sie auf den internationalen Gipfeln die weltweite Zivilgesellschaft.

Fast täglich gibt es Treffen einer Delegation der Umweltschützer mit den EU-Ministern. Singer gehört zu den wenigen Sprechern, die Vorträge sind unter den Umweltgruppen genau abgesprochen. An einem typischen Tag hier auf dem Gipfel bringt Stephan Singer es auf sieben Meetings, wie es hier heißt – schließlich ist die Tagungssprache Englisch. Donnerstag ist so ein Tag: Es fängt morgens an mit der WWF-Sitzung um 8 Uhr im Hotel. Dann um 9.30 Uhr die Sitzung der großen Umweltverbände WWF, Greenpeace und Friends of the Earth (wozu der deutsche BUND gehört) mit dem Dachverband CAN von 280 Klimainitiativen aus aller Welt. Um elf Uhr dann die europäischen Umweltgruppen, um 13 Uhr Vorbereitungstreff für ein Gespräch mit der deutschen Entwicklungshilfeministerin, dann das Gespräch selbst. Schließlich das große CAN-Meeting und dann am Nachmittag das Treffen mit den EU-Ministern. Die Lobbyarbeit ist schwerer geworden auf diesem Gipfel, denn inzwischen tagen alle Arbeitsgruppen nichtöffentlich. Zuvor bestand stets die Möglichkeit, mit Delegierten ins Gespräch zu kommen. Zum Glück ist Singer inzwischen bekannt. Ein norwegischer Delegierter etwa ruft ihn an und will einen Tipp, an wen er sich wenden kann, um Bündnisse für genaue Umweltregeln für die Senken durchzusetzten. Singer verweist an die Afrikaner.

Auf dem Weg zu Heidemarie Wieczorek-Zeul fängt ihn der Chef der italienischen Delegation ab und schimpft über den Entwurf des Klimapapiers auf dem G 8-Gipfel dieses Wochenende in Genua. „Völlig unzureichend“, klagt der Italiener – und Singer schlägt Alarm. Das sind die Momente, auf die er wartet. Eilig trifft er sich mit Kollegen, versucht mehr herauszubekommen und entwirft eine Strategie, die EU zu überzeugen, etwas mehr in Genua zu erreichen. Vielleicht wenigsten ein schärferes Papier ohne die USA, dafür mit Japan und Russland, überlegt Singer. „Ein G 6-Papier.“ Am Nachmittag wird er das den EU-Ministern vortragen. Gleichzeitig sind Briefe an die Regierungszentralen unterwegs. „Unsere Stärke“, sagt Singer, „ist die Einigkeit.“ Nur deshalb würden die Umweltverbände so gut gehört. Daran hat auch Singer seinen Anteil. Er gehört zu Meinungsführern. Auch wenn er widerspricht, bleibt er stets freundlich. Manchmal macht er einen Scherz, meist aber lächelt er, während er seinen Punkt macht. Er vermeidet es, sein Gegenüber lange zu fixieren. Lieber schaut er kurz zur Seite, entspannt so die Situation. Gezähmte Streitlust.

Politisch sozialisiert wurde Singer in der Antiatombewegung. Er kennt die langen Plenen, die zermürbenden Debatten über den Staat und den Kapitalismus. Er ist moderater geworden. „Irgendwann war ich es leid, immer gegen etwas anzurennen – ich wollte etwas Konstruktives machen.“ Deshalb ging er 1993 zum WWF Deutschland. Neben den Klimagipfeln koordiniert er die WWF-Energiepolitik in Europa: „Ich genieße es auch, mit der Industrie zu arbeiten.“ Doch er erinnert sich gern an die alten Zeiten. „Heute gibt es keinen relevanten Umweltverband mehr, der die Dinge noch grundsätzlich in Frage stellt.“

Eine klare Regel hat er

Von damals bewahrt hat er sich den totalen Einsatz. Nach einem Arbeitstag bis zehn setzt er sich in die Büros des Forums Umwelt & Entwicklung und arbeitet an Eco, der täglichen Gipfelzeitung der Umweltverbände. Oft kommt er erst um vier ins Bett. Tagsüber vergisst er schon mal das Essen. Am Donnerstag lässt er sich mehrmals von Journalisten vor dem Essensstand abfangen. Erst um zwanzig vor vier beißt er in sein erstes Essen, eine kleine vegetarische Teigtasche. Dazu eine Cola light. „Essen hat Zeit“, sagt er. Viel mehr stört ihn die wenige Zeit, um dem offiziellen Teil des Gipfels zu folgen. Auf dem Weg zu seinem Büro kommt er an einem Monitor vorbei, der Pressekonferenzen und das Plenum der 180 Delegationen überträgt. Singer kann nicht vorbeigehen, ohne wenigstens eine Minute hinzuschauen. „Ich brauche Informationen.“

Singer hat eine klare Regel: „Ich nehme grundsätzlich keine Arbeit mit nach Hause – sonst käme ich nie zur Ruhe.“ Jetzt ist der Gipfel sein Zuhause. Ertrifft viele alte Freunde, vor allem unter den Umweltschützern, inzwischen aber auch unter den Delegierten.

Auf einer der vielen Klimatagungen zwischend den Gipfeln hat Singer auch seine Frau kennengelernt. Delia Villagrasa ist hier ebenfalls allen bekannt. Jahrelang leitete sie das europäische Netz der Klimainitiativen, CAN Europe.

Villagrasa ist zur Zeit in Erziehungsurlaub. Doch zum Gipfel will auch sie am Montag mit dem Kind anreisen, alte Freunde treffen und zur Party der Umweltverbände kommen, dem heimlichen Höhepunkt jedes Gipfels. „Die Freunde, das war die eigentliche Motivation, noch mal herzukommen“, sagt Singer. Denn diesmal hatte er erstmals keine Lust zu kommen, zu schlecht schienen die Chancen auf einen Erfolg.

Seit dem gescheiterten Klimagipfel in Den Haag steht es schlecht um das Protokoll. Und nach aller Arbeit, die er investiert hat, geht das zuweilen auch Singer an die Nieren. Am Morgen nach Den Haag musste er weinen, beim Interview im Morgenradio.

Mit den Hoffnungen schmolzen auch die Ziele zusammen. Forderte Singer in Kioto noch, jedes Land müsse seinen Kohlendioxidausstoß bis 2005 um 20 Prozent mindern, fordert er heute nur noch ein „robustes Protokoll“, das es möglich mache, die Klimamaßnahmen zu kontrollieren und Säumige zu bestrafen. „Die Zahlen sind egal – man kann die Daumenschrauben auch später noch anziehen.“

Das ist vielleicht der größte Unterschied zwischen dem Bärenfell und dem Anzug. Wer so eng an den Verhandlungen ist, kann nicht radikal bleiben. Singer wird das unheimlich. Er weiß, er muss bald mal wieder etwas anderes machen. Aber nicht bevor das Protokoll steht. „Bush darf einfach nicht gewinnen.“