Das Land der Zwischentöne

In den US-Medien dominiert blinder Patriotismus. Dennoch ist Amerika nicht in einhelliger Kriegsstimmung. Viele fragen sich: Warum dieser Hass auf die USA?

Bushs Rhetorik ist eine monumentale Idiotie – auch weil sie die Sprache ihrer Gegner annimmt

Da singen die Amerikaner nun einmütig, so scheint’s, „God Bless America“, streichen John Lennons „Imagine“ aus dem Radioprogramm, hissen im Garten die Fahne für den „Kreuzzug“ des George Bush. „Bombt sie zu Basketballplätzen“, empfiehlt das Boulevard-Blatt New York Post, und meint Länder wie Afghanistan. „Wir sollten einmarschieren, ihre Anführer umbringen und sie zum Christentum bekehren“ sekundiert die New York Daily News, das Ohr angeblich ganz nah am Volksmund.

Da sitze ich in meinem Zweitland USA, und aus der Heimat kommen erschrockene Anrufe: „Gibt’s denn außer Susan Sontag und Woody Allen niemand, der sich dem Kriegsgeschrei verweigert?“ Es gibt sie. Nehmen wir einen, der linksliberaler Umtriebe unverdächtig ist. Schauen wir nach Texas, wo am Sonntag der Pastor George Mason in der Wilshire Baptist Church in Dallas predigte: „Lasst uns bis aufs Äußerste Zurückhaltung üben in der Suche nach Gerechtigkeit, auf das wir nicht einfach das Töten eskalieren, um uns in der Rache besser zu fühlen.“

Ist das repräsentativ? So repräsentativ wie all die anderen Beobachtungen aus einem aufgewühlten Land, in dem Geschäftsleute mit US-Fähnchen am Revers den Atomeinsatz gegen Kabul wünschen, während Passanten ein paar Meter weiter Denkmäler mit US-Fähnchen und Friedenszeichen schmücken. Kurzum: Unter der Decke des Patriotismus ist diese Nation keineswegs in einhelliger Kriegsstimmung. Vor allem aber ist ihre Gesellschaft weitaus offener als ihre politische Führung, wenn es um die Frage geht: Warum so viel Hass auf die USA? „Wir haben uns oft auf die Seite Israels und gegen die Palästinenser in einer Weise gestellt, die kein Mitgefühl für die Araber zuließ. Wir haben Marionettenherrscher wie den Schah im Iran aufgebaut, um billiges Öl zu sichern.“ Sprach wer? Der Baptistenprediger George Mason am Sonntag vor etwa tausend weißen, gottesfürchtigen und wahrlich patriotischen Texanern. Dem Pastor lag nichts ferner, als die Angriffe vom 11. September zu rechtfertigen. Für die Rache Suchenden hat er Verständnis, und für seinen Präsidenten lässt er beten, aber von moralischer Oberhoheit in einem „Kreuzzug“ will er wie viele Amerikaner nichts wissen.

Kritik an der offiziellen Kriegspropaganda findet man nicht in Meinungsumfragen, aber man hört sie in Kirchen, in Veteranenvereinen, auf Mahnwachen, an Universitäten, in Schulen. So reden keineswegs nur „Tauben“, so reden auch Befürworter militärischer Schläge. Aber sie wüssten gern, was die Supermacht USA außer Bomben aufbieten kann, um einem selbstmörderischen Fanatismus das Feindbild zu nehmen. Natürlich herrscht Wut, fassungslose Wut, Angst und Hass. Es gibt aber auch ein enormes Bedürfnis, diese Tat zu verstehen.

Wenig ist von alldem in den Medien zu hören und zu sehen. Mit der Lokalzeitung flattert mir die US-Fahne zum Ausschneiden ins Haus, über AOL kann ich patriotische Lieder herunterladen; außerdem erfahre ich, dass es jetzt wieder „okay“ sei, gute Laune zu verbreiten. Das Fernsehen macht sich verdient als Forum für die Angehörigen der Opfer. Doch ansonsten überbieten sich die Kanäle im Aufgebot ihrer Antiterrorismusexperten, darunter einige Herren, die in den Diensten der CIA den afghanischen Gotteskriegern einst Know-how und Waffen lieferten oder die Contras in Nicaragua ausbildeten. Da kommt einem dann die Galle hoch, was weder – wie Henryk Broder so unsinnig im Spiegel unterstellt – die Wut auf Terroristen noch die Trauer für ihre Opfer schmälern muss.

Man muss auch keine „Antiamerikanerin“ sein, um sich allein bei der Ankündigung einer öffentlichen Verlautbarung des Präsidenten die Ohren zuzuhalten. Was redet er jetzt wieder? „Kreuzzug“? „Dead or Alive“? „Wir werden sie ausräuchern“? Oder kündigt er noch mal eine „monumentale Schlacht des Guten gegen das Böse“ an? Bushs Rhetorik ist eine monumentale Idiotie, weil sich die US-Regierung damit unter ungeheuren militärischen Erwartungsdruck setzt; weil sie die Sprache ihrer Gegner annimmt; und weil sie das Klima für die amerikanischen Muslime noch feindseliger macht, als es ohnehin schon ist. Die Berater des Präsidenten fürchten dessen Ausflüge in die freie Rede; die Ausrufung des „Kreuzzugs“ hat man schnell korrigiert, zumal es auch manche Nato-Verbündeten bei solchen Worten schaudert. Kurz darauf hat Bush dann im Islamischen Zentrum von Washington für Toleranz geworben. Aber da hatte ein Frank Roque aus Arizona seine Schlacht gegen das Böse schon geschlagen und aus „Patriotismus“ den Tankstellenbesitzer Balbir Singh Sodhi erschossen. Der war zwar Sikh, trug als solcher aber wie Ussama Bin Laden einen Turban und einen Vollbart.

Die leiseren Töne der Berater verraten eher, worum es geht: Von einer „lang anhaltenden Kampagne“ wird gesprochen, von der Möglichkeit „eigener Verluste“. Da möchte man die Bevölkerung auf mögliche Interventionen auch mit Bodentruppen vorbereiten und hätte schon jetzt gern einen Blankoscheck. Ihn aber wird es nicht geben, schon gar nicht wenn die ersten toten US-Soldaten zu vermelden sind oder die ersten Bilder von zivilen Opfern – vorausgesetzt, irgendjemand hat die Chance, sie aufzunehmen.

Natürlich herrscht fassungslose Wut. Es gibt aber auch ein enormes Bedürfnis, diese Tat zu verstehen

Wie geht es weiter? In den USA kündigen sich Massenentlassungen und Konkurse an. Eine Regierung, die bisher den Rückzug des Bundesstaates aus Politik und Wirtschaft forciert hatte, wird zum Verfechter einer ungekannten polizeilichen Zentralgewalt und muss plötzlich keynesianische Wirtschaftspolitik betreiben. In Afghanistan eskaliert eine seit Monaten herrschende Flüchtlingskatastrophe; in Pakistan muss man fürchten, dass ein Diktator seine Macht und die Kontrolle über Atomwaffen verliert; und in New York City werden Tausende von Einsatzkräften noch monatelang die Trümmer des World Trade Centers mit den sterblichen Überresten von 5.000 Menschen abtragen – Opfer aus 62 Ländern, Juden, Muslime, Christen, Hindus, Buddhisten. So gesehen, war es wirklich ein Anschlag auf die Welt.

Vielleicht gibt es ja im Moment nicht mehr zu tun, als die Zwischentöne zu dokumentieren aus einem Land, das immer noch unter Schock steht, seit Montag aber wieder „normal“ funktionieren soll; das auf einen ersten Kriegsakt wartet, ohne zu wissen, wem es den Krieg erklärt hat; das noch immer Anschläge fürchtet, aber schon wieder über die Beschneidung von Bürgerrechten streitet; dessen Symbolfigur in diesen Tagen kein Präsident, auch kein General, sondern der Bürgermeister von New York City geworden ist – eben genau jener erzkonservative Knochen Rudy Giuliani, der nicht Rache, auch nicht Krieg gerufen, sondern gesagt hat: „Wenn Sie uns wirklich helfen wollen, kommen Sie nach New York City und geben Sie hier viel Geld aus.“ Jetzt gebe es sogar Karten für die besten Broadway-Shows. Vielleicht ist der Mann verrückt, vielleicht ist er unverwüstlich. Vielleicht ist das in solchen Zeiten dasselbe. ANDREA BÖHM