Souverän gegen den Zeitgeist

Aufsätze und Briefe des bedeutenden Historikers Marc Bloch geben einen Einblick dessen intellektuelle „Werkstatt“

Der französische Mediävist Marc Bloch zählt zu den bedeutendsten Historikern des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit Lucien Febvre, der ebenfalls geprägt wurde vom soziologischen Denken Emile Durkheims, begründete er 1929 die Zeitschrift Annales, mit der die französische Nouvelle Histoire die Geschichtswissenschaft revolutionieren sollte.

Während sich Febvre eher den sozialpsychologischen und affektiven Seiten der Geschichte zuwandte, hegte der skeptische Bloch zwar ein besonderes Interesse für religiöse und politische Vorstellungen, nahm sich aber auch der materiellen Aspekte an, die er in einen symbolisch vermittelten, kulturellen Gesamtzusammenhang stellte. Bloch, der sich lieber als Historiker denn als Mediävist bezeichnet sah, richtete seinen Blick oft über die Grenzen des eigentlichen Fachgebiets hinaus, war ein aufmerksamer Beobachter des Zeitgeschehens und schöpfte aus diesem Anregungen für seine Forschungen. Der Historiker war zudem ein überzeugter Republikaner und wurde 1944 von der Gestapo erschossen, weil er sich der französischen Widerstandsbewegung angeschlossen hatte.

Obwohl Marc Bloch schon seit einigen Jahren als einer der ganz Großen der Historiografie gilt, sind seine Werke bis vor kurzem wenig oder nur unzureichend ins Deutsche übersetzt worden. Peter Schöttler, Bloch-Spezialist und emsiger Vermittler der neueren französischen Geschichtswissenschaft im deutschen Sprachraum, hat nun einen (bereits 1995 auf Französisch erschienenen) Band mit Texten Blochs herausgegeben, von denen dieser einige zu Lebzeiten unter dem Titel „Historiens à l’atelier“ publizieren wollte. Mit diesen Texten sollte die Öffentlichkeit einen Einblick in die „Werkstatt“ eines Historikers erhalten – eine Sichtweise, die eine abgerundete Studie gewöhnlich nicht zulässt. Das geplante Buch jedoch erschien nie.

Die nun vorliegenden Texte, die zwischen 1906 und 1939 entstanden, decken annähernd die gesamte Schaffenszeit Blochs ab. Sie gehören den verschiedensten Genres an – große, berühmte Aufsätze, kurze Rezensionen, Vorträge, Lexikonartikel – und zeigen einen kritischen, strengen, ja scharfzüngigen, rationalistischen und äußerst originellen Geist am Werk, der sich weniger für theoretische Höhenflüge denn für quellennahes, problemorientiertes, fachübergreifendes und gegenwartsbezogenes Arbeiten erwärmte. Es ist, gerade mit Blick auf die damaligen deutschen Verhältnisse, beeindruckend, mit welcher Selbstverständlichkeit und Souveränität da ein Mediävist Neuerscheinungen der Ethnologie, Soziologie und Psychologie rezipierte. Einige Texte beschäftigen sich außerdem mit den Methoden der Geschichtswissenschaft, den „Arbeitswerkzeugen“ und der Organisation des Fachs sowie dem von Bloch nachdrücklich geforderten vergleichenden Vorgehen; zwei abschließende Teile sind den kollektiven Vorstellungen und Historikerporträts gewidmet.

Unbestrittenes Hauptwerk Blochs ist „Die Feudalgesellschaft“ wird das „ feudum“, das mittelalterliche Lehenswesen, nicht nur in seinen rechtlichen Dimensionen, sondern in seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung erklärt. In einer europäisch vergleichenden Perspektive zeigt Bloch auf, wie sich die feudale Welt als eine Gesellschaft von Gruppen und Klassen herausbildete. Er untersucht neben den wirtschaftliche Grundlagen die Verwandtschaftsstrukturen, das geistige Klima, die kollektive Erinnerung und die Art des Fühlens und Denkens. Die „Feudalgesellschaft“ wurde für eine auf hundert Bände angelegte Reihe verfasst, die der Historiker Henri Berr herausgab, um die Erneuerung der französischen Geschichtswissenschaft in die Wege zu leiten. Berrs Großprojekt sollte nicht weniger als eine „historische Synthese“ leisten.

Blochs edierte Briefe an den eine Generation älteren Berr erlauben es, die Entstehungsgeschichte der „Feudalgesellschaft“ ganz aus der Nähe zu beobachten. Bloch war sich offenbar durchaus bewusst, wie neu sein Vorgehen war. „Ich habe versucht – wahrscheinlich zum erstenmal überhaupt –, die Grundform einer gesellschaftlichen Struktur mit all ihren Verästelungen aufzugreifen“, schreibt er seinem Auftraggeber 1939. Von Selbstbewusstsein zeugen auch die vor der Abfassung des Buchs entstandenen, äußerst amüsanten Passagen, in denen er rücksichtslos und überzeugend darlegt, dass keiner seiner Fachkollegen fähig sei, dieses Werk zu verfassen.

Doch die Briefe weisen – tröstlich zu wissen – auch eine Kehrseite auf. Mehr als einmal klagt der Wissenschaftler, sich wortreich entschuldigend, dass er sich zu viele Arbeiten aufgehalst habe und deshalb in Rückstand geraten sei. Persönliches oder Privates hingegen wird man vergeblich suchen. Die Grenze einer im Laufe der Zeit zunehmend herzlichen, aber stets förmlich-respektvollen Freundlichkeit überschritten beide offenbar nicht. Da Berrs Briefe fehlen, ist es letztlich schwierig, das Verhältnis der Historiker genau zu bestimmen. URS HAFNER (© NZZ)

Marc Bloch: „Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft“. Hg. v. Peter Schöttler, 368 Seiten, Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 78 DM (39,90 €)Marc Bloch: „Briefe an Henri Berr 1924–1943. Mein Buch ‚Die Feudalgesellschaft‘“. Hg. v. Jacqueline Pluet-Despatin, Vorwort v. Bronislaw Geremek, 144 Seiten, a. d. Frz. Jochen Grube, Klett-Cotta, Stuttgart 2001, 58,99 DM (30 €)