„Der Zusammenprall ist ein Segen“


Interview EBERHARD SEIDEL

taz: 40 Jahre Einwanderung aus der Türkei. Ein Grund zur Freude für Sie?

Feridun Zaimoglu: Ja natürlich. 33 Jahre meines Lebens habe ich in Deutschland verbracht, ohne Anwerbung hätte es mich nicht hierher verschlagen. Ich werde auch nicht müde, zu sagen, dass dieses Land eine Chance ist und viele Biografien sich anders entwickelt hätten, wären die Arbeitsmigranten in ihrem Heimatland geblieben.

Und was haben die 40 Jahre Einwanderung mit uns Deutschen gemacht?

Mit euch Deutschen?

Nein, mit uns Deutschen.

Ja genau, das ist es. Es hat für einen babylonischen Sprach- und Formulierungswirrwarr gesorgt. Es hat dafür gesorgt, dass die Deutschlandbilder zahlreicher geworden sind. Es gibt nicht nur dein Deutschland, mein Deutschland – es gibt zahlreiche Deutschlandbilder, die sich ziemlich voneinander unterscheiden. Migration ist weder eine Bereicherung noch eine Belastung. In Deutschland wird nichts mehr so sein, wie es einmal war.

Auf Grund der Einwanderung?

Ja, aber nicht weil die Einwanderer die Eindringlinge sind und diesem unserem Land ihren Stempel aufgedrückt haben. Die Beteiligten sind sich nicht bewusst, was dieser Prozess mit ihnen gemacht hat. Sie sind immer noch betäubt.

Dann nennen Sie uns doch mal die drei wichtigsten Veränderungen.

Erst einmal hat die Migration Regelverstöße mit sich gebracht. Da mag Innenminister Schily noch so sehr den Bärbeißer mimen, es wird der Regelverstöße noch mehr geben, und das ist gut so. Dann hat sie uns verwirrt. Die Verwirrung wird sich nicht legen, sondern zunehmen. Drittens: Der Papiertigersprung der anatolischen Bauern ins Industrieproletariat und der Zusammenstoß der Eindringlinge mit den Eingeborenen sind ein großer Segen.

Worin liegt der Segen des Zusammenstoßes?

Wenn die Leute unter sich bleiben, kommt ein inzestuöses Gefühl auf. In den letzten zehn Jahren sind alte Sicherheiten ins Wanken geraten, weil die Konfliktlinien nicht mehr zwischen Eindringlingen und Eingeborenen verlaufen, sondern quer durch das Land, quer durch den ethnischen Garten. Dieser Zusammenprall führt zum Identitätsschwund bei den Türken, Kurden und auch den Deutschen.

Und was soll an dieser migrationsbedingten Verwirrung so produktiv sein?

Migration ist ja auch ein schmerzhafter Prozess. Nicht der Friede, sondern der nachbarschaftliche Krieg, die alltäglichen Auseinandersetzungen sind von Bedeutung. Das wühlt auf und ist produktiv. Ich kann als Migrant nicht daherkommen und versuchen, mein Lebensmodell aus den Fünfzigerjahren der Türkei national oder religiös zu konservieren. Bei der zweiten und dritten Generation hat eine Akkulturation stattgefunden, ohne dass man seine Eigenständigkeit an der Zollschranke abgegeben hatte. Ich kann heute sagen, ich bin fremd und ich bin trotzdem deutsch. Und ich kann heute sagen, ich liebe dieses mein Land. Wenn Sie eingangs gefragt haben: Was hat die Einwanderung mit uns Deutschen gemacht?, stellen Sie die zentrale Frage, die die Normalität der Umwälzung auf den Punkt bringt. Es ist mittlerweile ein Wir. Dieses Wir-Gefühl ist subversiv, denn man kann sich nicht mehr irgendwo einigeln und sagen: Wir gegen den Rest.

Aber dieses Wir scheint noch auf die Einwandererviertel der Großstädte beschränkt zu sein.

Das gibt es auch auf dem Lande. Ich habe viele Lesungen in Schulen, in kleinen Käffern gemacht, dort, wo man kein Publikum aus dem Literaturhaus hat. Auf dem Land und in den Kleinstädten bin ich auf smarte Barbaren gestoßen, die ohne schlechtes Gewissen davon gesprochen haben, dass sie Deutsche sind. Sie sind unkomplizierter und unverkrampfter als das Publikum in den Metropolen.

Das wäre wahrscheinlich noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen?

Ich denke, nicht. Der Auslöser für meine Tohuwabohu-Literatur waren ja meine Probleme damit, wie Begriffe über die Köpfe der Beteiligten gemacht worden sind. Zugegeben: Es gibt Missstände wie Sprachdefizite oder Retro-Ethno-Enklaven innerhalb der migrantischen Ballungsviertel. Ich vermisste in der medialen Inszenierung allerdings den positiven Ton.

Gibt es zum Thema 40 Jahre Einwanderung nur Gutes zu berichten?

Ich habe mich mit Vertretern eines restriktiven Staates gestritten. Wir reden über ein Deutschland, das in den nächsten Jahren ein wenig gestrenger regiert werden wird. Und in diesem Deutschland reklamiere ich meinen Platz in der Riege der Nonkonformisten.