Selbstbestimmt mit Salzteig matschen

Wie lehrt man, eigenständig zu lernen? Der Pestalozzi-Fröbel-Kindergarten in Charlottenburg will mit einem neuen Konzept Kinder ermutigen, früh Interessen zu verfolgen und ihr Wissen zu erweitern. Eltern werden dabei einbezogen

Antonio, fünf Jahre alt, hat gerade seine Seilphase. In einer Ecke des Bauzimmers, direkt vor dem Fenster, knotet er engagiert grüngelbe Kordeln zusammen. Die Enden bindet er an alles, was gerade greifbar ist: an einen Ministuhl, ein Treppengeländer, den Haken in der Decke. Antonio schwingt wie ein Äffchen durch das bunte Netz, schaukelt, knotet weiter.

„Entwickelt ein Kind Interesse an einem bestimmten Thema, dann machen wir entsprechende Angebote“, sagt Erzieherin Krystyna Glowacki, die auf dem Verkehrsstraßenteppich zwischen Duplo-Schienen sitzt. Was für Antonio einfach mehr Kordeln, mehr Haken, vielleicht ein Spielplatzbesuch mit einem Kletternetz bedeutet, ist für das Kinder- und Familienzentrum in der Schillerstraße 61 ein wichtiges Grundprinzip. „Selbstbestimmt Lernen, weg von fremdbestimmten Angeboten“, nennt das Projektkoordinatorin Jutta Burdorf-Schulz. Weg vom klassischen „Heute malen wir unsere Familie mit Wasserfarben“. Seit September gibt es die Charlottenburger Kindertagesstätte, eine Einrichtung des Pestalozzi-Fröbel-Hauses, die ein neues Modell für frühkindliches Lernen anbietet.

Das Vorbild für die Berliner Erzieherinnen liegt in Corby, England, und heißt Pen-Green-Kindergarten. Regelmäßig besuchen englische Erzieherinnen ihre Berliner Kolleginnen und umgekehrt. Zusätzlich zu dem neuartigen Lernansatz beziehen die Briten stark die Eltern in ihre Arbeit ein – sie bieten Treffen an, organisieren Seminare, manche junge Mutter bekommt sogar einen Job.

Eins zu eins sei das Corby-Modell natürlich nicht übertragbar, sagt die Berlinerin Burdorf-Schulz. Im gutbürgerlichen Charlottenburg sind die meisten Eltern berufstätig. „Wir testen gerade, wo wir die Eltern abholen können, und befinden uns noch in einer Art Marktanalyse.“

Bisher ist vor allem Entlastungsservice gefragt: Fest installiert ist ein samstägliches Betreuungsangebot, um Eltern Zeit für Einkaufsgänge zu geben. Bei gemeinsamen Sonntagsfrühstücken und in dem während der Öffnungszeiten zugänglichen Elterncafé können sich leidgeplagte Erwachsene über Trotzphasen und Milchzähne austauschen. In den Kitaräumen gibt es eine von den Eltern initiierte Swing/Salsa-Tanzgruppe, eine Mutter bietet sogar ein eigeninitiiertes Tai-Chi-Seminar an – mit Körperübungen wie „Stehen wie ein Pfahl“ zu einem neuen Wir-Gefühl.

Jenseits des Kanals, in Corby, übernimmt Tony Blairs Labour-Regierung seit 1997 die Kosten für 29 ausgewählte Kindergärten. Das Haus in der Schillerstraße stützt sich – neben der üblichen öffentlichen Finanzierung – auf Zuschüsse eines privaten Sponsors – der Dürr-Stiftung des ehemaligen Bahnchefs Heinz Dürr. Sechs Jahre lang will der Mäzen jeweils 153.388 Euro (300.000 Mark) in das Projekt Schillerstraße stecken, das bundesweit erste „Centre of Early Excellence“. Frei ins Deutsche übersetzt heißt das etwa „Zentrum für exzellente Förderung von Kindern und Eltern“.

Die über hundert Kinder sind nicht wie in konventionellen Kindergärten in Gruppen eingeteilt. Stattdessen hat jedes Zimmer ein eigenes Thema. Die Kinder können morgens frei wählen, mit wem und wo sie spielen. Wenn Antonio im Bauzimmer knotet, widmen sich die anderen dort vielleicht lieber den Holzklötzen, Lego- oder Duplosteinen.

Nebenan im Kreativzimmer stehen Tusche und Pinsel, Wasserfarben, Knete oder Wachsmalstifte bereit. Auf dem kniehohen Tisch liegt ein Berg Salzteig, mit dem Chantal, 5, Yagmur, 5, und die anderen mit Wonne matschen – und ab und zu Weihnachtsbaumanhänger ausstanzen. Ein Riesenspaß für die Kinder, eine „Riesensauerei“ für Erzieherin Steffi Manzel, die nachmittags aufräumen muss. „Zeig dein Teigmännchen mal hierher“, sagt sie zu Chantal und drückt auf den Auslöser. Fotografieren ist eine weitere Säule des neuartigen Erziehungsansatzes: Möglichst jeden kindlichen Erkenntnisgewinn dokumentieren die Erzieherinnen mit einer Digitalkamera, überall hängen an den Wänden Fotos von Chantal, Antonio und den anderen auf farbiger Pappe. So bleiben die Eltern über den Werdegang ihres Nachwuchses auf dem Laufenden – und haben etwas zu erzählen beim nächsten Sonntagsfrühstück. ULRICH SCHULTE