Der berühmteste Übergang in den Süden

Der Name gilt als Inbegriff für Transit schlechthin: Der Brenner. Doch wer kennt schon noch den Ort, der dem Grenzpass seinen Namen vermacht hat? Nicht einmal eine Autobahnausfahrt ist ihm geblieben. Eine Bestandsaufnahme der Geschichte, Gegenwart und fehlenden Zukunft eines Ortes

Ergriffenheit ohne Begeisterung: Der Brenner ist fatal, und das spürt man

von CHRISTA SALCHER

„Irgendwann hat mir jemand gesagt, dass man am Brenner von Schnürsenkeln bis zu Sprengstoff alles bekäme, und das war auch so. Es gab hier nichts, das es nicht gab“, erzählt ein Pensionist aus Nürnberg. Er fährt einmal im Jahr nach Norditalien, besucht die Weinstraße in Eppan bei Bozen, den Kalterer See, Cortina d’Ampezzo oder den Gardasee. Das sei genauso Tradition wie der Zwischenstopp am Brenner. Während er das erzählt, blicken seine Augen in die Ferne. Als ob er dort die Vergangenheit sehen könnte. Er schwelgt und schweigt, und hätte er nicht von seinem Rohschinkenbrot abgebissen, hätte er noch länger so versunken am Marktplatz gestanden. Beim Abbeißen wurde er zurückgeholt. Streng mustert er das weiße Stück Brot, das er in der Hand hält. Es sei trockener, als es sein sollte, meint er. Vielleicht schmeckt ihm das französische Baguette, das er in der Bäckerei zu Hause kauft, besser.

Am Brenner hat sich viel verändert. Der Ort erinnerte einmal an einen belebten Bahnhof, war lange Zeit politisch wie militärisch ein strategisch wichtiger Punkt und der bedeutendste Grenzort der Republik Italien. Da die Grenzziehung zwischen Österreich und Italien von 1919, die staatliche Trennung Nord- und Südtirols, für heftige Diskussionen auf beiden Seiten sorgte und zu dramatischen Kämpfen führte (in den Sechzigerjahren wurden unzählige Sprengstoffattentate verübt), griff die italienische Regierung zu Italienisierungsmaßnahmen. Außenstellen von Ministerien und „Strafversetzungen“ italienischer Beamte sollten etwas beschleunigen und verdeutlichen, das heute selbstverständlich ist: Am Brenner beginnt Italien. Ergebnis dieser Maßnahmen: In den Sechzigerjahren gab es mehr als 70 Behörden und 1.337 Einwohner – der überwiegende Teil der Bevölkerung sprach Italienisch.

Gleichzeitig entwickelten sich auch Tourismus und Handel. Italien boomte als Reiseland und das bewirkte, dass am Brenner neben Behörden und Wohnheimen auch Tankstellen, Gaststätten und Geschäfte errichtet wurden. In den Sechzigerjahren glich der Brenner einer riesigen Baustelle. Da der Talboden wenig Platz bietet und Bahnhof und Geleise viel Fläche nehmen, entwickelte sich eine Bauweise, die die Ortschaft bis heute prägt. Die Häuser sind schmal und für ein Gebirgsdorf ungewöhnlich hoch, liegen dicht nebeneinander und entlang der Durchzugsstraße.

Selbst beim Bau der Marienkirche ist die Raumnot zu spüren. Die alte St.-Valentin-Kirche fasst 200 Personen und wäre jetzt groß genug. Damals war sie zu klein. Ende der Fünfzigerjahre musste mit dem Bau einer neuen Kirche begonnen werden. In der Dorfmitte und mitten im Einkaufsparadies. Sie grenzt an einer Seite an eine Reihe von Geschäftslokalen und an einer anderen an das Hotel Olympia. Hätte sie keinen Turm, würde man sie vielleicht übersehen.

Heute erinnert der Brenner an eine Geisterstadt. Besonders am Morgen und wenn der Wind pfeift. Die Amtsgebäude und Wohnheime säumen den Straßenrand und selbst das Zollhäuschen an der österreichisch-italienischen Grenze steht da, wo es immer gestanden hat. Was fehlt, sind die Menschen, die in diesen Gebäuden zu tun haben, dort wohnen.

Noch leben 200 Menschen am Brenner. Spricht man mit Bürgermeister Christian Egartner, glaubt man, auch sie würden bald verschwinden. „Der Brenner hatte nie die Voraussetzungen für ein Dorf“, beginnt er zu analysieren. „Die Ortschaft war früher ein Weiler mit vier Bauernhöfen, einem Bahnhof, einer Kirche und einem Gasthaus. Das war’s. In den Zwanzigerjahren und nach dem Zweiten Weltkrieg hat man am Brenner eine künstliche Ortschaft geschaffen und Ansiedlungspolitik betrieben. Nun, durch das Schengener Abkommen, den damit verbundenen Wegfall der Grenzkontrollen und der Liberalisierung, hat die öffentliche Hand die Arbeitsstellen auf ein Minimum reduziert. Zum Großteil auf null, bei der Eisenbahn auf die Hälfte. Die Menschen mussten abwandern.“ Dann schimpft er über das Wetter und darüber, dass natürlich niemand unter solchen klimatischen Verhältnissen leben möchte, über die leeren Häuser und darüber, dass die italienische Regierung dort Asylanten aus Marokko oder Pakistan einquartiert. Nur sie würden sich das gefallen lassen, freiwillig übersiedele kein Mensch mehr auf den Brenner. Neben dem Klima würde auch die fehlende Infrastruktur das Leben am Brenner beschweren. Aufgrund der hohen Abwanderung gibt es nicht einmal mehr eine Schule. Seiner Ansicht nach sei die italienische Regierung dazu verpflichtet, die „Grenzästhetik“ zu entfernen. Sie müsse den Abbruch der Häuser finanzieren.

Die Voraussetzungen für die Landwirtschaft waren aufgrund des rauen Klimas am Brenner immer schlecht. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei plus vier Grad Celsius. Als niederster Alpenübergang stellt der Brenner aber seit 4.000 Jahren die wichtigste Nord-Süd-Verbindung in Europa dar. Die Menschen lebten vom Verkehr. Die Wirte der Brennergegend waren sogar recht wohlhabend. Viele hielten auch Pferde und andere Zugtiere. Wenn die Fuhrleute am Brenner übernachteten, kamen sie meist gegen Mittag an, um für Mensch und Vieh eine entsprechend lange Rastzeit zur Verfügung zu haben. In den Morgenstunden brachen sie auf in den Süden.

„Und nun erwarte ich, dass der Morgen diese Felskluft erhelle, in der ich auf der Grenzscheide des Südens und Nordens eingeklemmt bin“, schreibt Johann Wolfgang von Goethe 1786 in seinen Reisebildern. Auch er hielt bei seinen Italienreisen zum Übernachten. Seine Worte bekunden Ergriffenheit, wenngleich in dieser Ergriffenheit wenig Begeisterung schwingt. Der Brenner ist fatal, und das spürt man. Was die Menschen am Brenner reich gemacht hat, bescherte ihnen später Armut. Etwa als im August 1867 die Brennerbahn eröffnet wurde. Die Brennergegend verfiel von heute auf morgen ins Nichts. Der Verkehr auf der Straße war wie lahm gelegt, die Straße verödete und die Menschen, die von den Reisenden lebten, verarmten, zogen weg, sofern es ihnen möglich war. Auch die Entdeckung Amerikas hat den Brenner für einige Zeit gelähmt. Da der Hafen von Venedig seine Vormachtstellung eingebüßt hat, verlor der Wirtschafts- und Handelsweg über den Brenner an Bedeutung.

Erneut beginnt der Bürgermeister zu schimpfen, ärgert sich über die italienischen Ministerien, die Entscheidungen hinauszögern würden. Längst hat er eine Lösung, von der er glaubt, dass sie den Brenner retten könnte: Wer über die Autobahn nach Italien fährt, kann zur Zeit nicht am Brenner Station machen. Die erste italienische Autobahnabfahrt befindet sich in Sterzing. Für einen Einkaufsaufenthalt am Brenner muss man in Österreich, bei der Ausfahrt Brennersee, abfahren. „Das ist umständlich und kann nicht funktionieren“, meint er. 2003 soll die Ortschaft Brenner daher einen eigenen Autobahnzubringer bekommen, den Brenner in eine lebendige Raststätte verwandeln. Eine Raststätte, wie es sie noch nirgends gegeben hat und mit allen Möglichkeiten, die man dem Personen- und Schwerverkehr bieten kann. Ein Aufbruch?