Zwischen Welt, Dorf und in Berlin

Der mexikanische Autor Natalio Hernández kommt aus einem Dorf in der Sierra Huasteca. Er schreibt in seiner Muttersprache Náhuatl. Das Spanische kann er erst seit zehn Jahren wirklich genießen. Ein Gespräch über Sprachhoheit und Vielsprachigkeit

Interview ANNE HUFFSCHMID

taz: Ist das literarische Schreiben von Indigenen immer zugleich auch kultureller Widerstand?

Natalio Hernández: Tatsächlich waren am Anfang die Indio-Bewegungen der Siebzigerjahre, die gegen die „Zwangskastellanisierung“ zweisprachige Bildung forderten. In den Achtzigern wurden die ersten Akademien für indigene Sprachen gegründet, 1990 begannen wir Schreibenden uns zu treffen, es gab erste Symposien, Stipendien und Literaturpreise. Zuerst hatte die indigene Literatur die Funktion, dem Kampf um die eigene Existenz und Anerkennung Ausdruck zu verleihen. Mit der Zeit und in neuen Generationen wird diese Lyrik reifer, befreit und löst sich von diesen politischen Aufträgen. Diejenigen, die nach uns kommen, sind längst nicht mehr so verletzt, machen nicht mehr so fordernde Literatur und haben die Last des Politischen ein wenig hinter sich gelassen.

So weicht die Vorstellung einer homogenen Kollektivstimme einer sozial unterdrückten Gruppe mit der Zeit der Diversität einzelner Stimmen? Ist indigene Literatur dann überhaupt auf einen Nenner zu bringen?

Wenn überhaupt, können wir von einer mesoamerikanischen Literatur sprechen, ausgehend davon, dass wir – über die Sprache hinaus – dem gemeinsamen Nenner der Kulturen Mesoamerikas entstammen. Je reifer und souveräner wir werden, desto eher werden wir in der Lage sein, diesen kulturellen Wurzeln auf je eigene Weise in Bildern, Rhythmen, Metaphern und Stilen Ausdruck zu verleihen. Aber das braucht Zeit. Wir haben über 500 Jahre der Leugnung hinter uns und der linguistischen Verfolgung, während derer die Kinder dafür bestraft wurden, die Sprache ihres Dorfes und ihrer Eltern zu sprechen. Wir dachten immer, wir befinden uns am Rande der Gesellschaft. Dabei sind wir im Zentrum. Während der nächsten 10, 20 Jahre werden wir eine Blüte indigener Literatur erleben.

Diese Literaturen werden in Dutzenden verschiedenen Sprachen verfasst. Was bedeutet diese Vielsprachigkeit – auch für Sie selber?

Über Jahrhunderte gab es ja von oben ein Projekt der Homogenisierung. Dabei sind die einzelnen Regionen immer schon multikulturell und mehrsprachig gewesen. In meiner eigenen Heimat, der Sierra Huasteca, hätten wir als Nahuas in der Schule Otomí oder auch Huasteco lernen müssen, um mit unseren Nachbarn reden zu können. Diese Mehrsprachigkeit galt lange als Nachteil, mittlerweile sehen wir sie als enormen Reichtum. Denn Diversität ist das Paradigma des 21. Jahrhunderts, nicht nur für Mexiko, für die ganze Welt. Die nachfolgenden Generationen werden automatisch in einem mehrsprachigen Kontext aufwachsen. Die Kinder in meiner Gemeinde benutzen heute schon mit sechs oder sieben ganz selbstverständlich Spanisch und Náhuatl. Ich selbst habe etwa 45 Jahre gebraucht, wahrhaft zweisprachig zu werden: Das Spanische kann ich erst seit rund zehn Jahren wirklich genießen. Náhuatl und Spanisch haben immer in mir gekämpft. In den Achtzigerjahren sollte alles in Náhuatl sein, ich sah gar nicht ein, dass das auch in Spanisch erscheinen sollte, es war schließlich mein Ureigenes. Bis zu meinem ersten Mestizen-Buch, darin gibt es Gedichte, die in Náhuatl zu mir gekommen sind und solche, die in Spanisch kamen. Letztes Jahr habe ich dann einen zweiten Durchbruch erlebt, als einige meiner Gedichte in das Englische übersetzt wurden.

Wie verhält sich der einsame Akt des Schreibens zur kommunitären Weltsicht indigener Kulturen und Gemeinschaften?

Das ist natürlich immer eine individuelle Entscheidung des Schreibenden. Wobei ich denke, dass ein Schriftsteller in einer der originären Sprachen Mexikos sich sehr bewusst ist, dass er dieses Band zur Gemeinschaft gar nicht kappen kann, da es schlussendlich genau das ist, was seiner Literatur ihren Sinn und ihre Zugehörigkeit verleiht. Die Völker und Dörfer haben noch heute viele Mechanismen, um die Bande zu ihren Mitgliedern zu bewahren, etwa der des Dorfes als Familie: die Großeltern sind die des ganzes Dorfes, mein Onkel ist Onkel der ganzen Gemeinschaft. Aber das Risiko besteht natürlich immer, dass man zu einem einsamen, verwestlichten und den eigenen Wurzeln entfremdeten Literaten wird.

Nur ein Risiko oder auch eine Herausforderung – oder vielleicht sogar eine Art Befreiung?

Eine Herausforderung ist es auf jeden Fall. Und zwar genau die, die die indigenen Völker heute angesichts der Globalisierung leben. Als man mich vor zwanzig Jahren mit der Frage des Weltbürgertums konfrontierte, habe ich noch gesagt: ‚Wie grässlich! Ich bin kein Weltbürger, ich bin aus einem Dorf in Veracruz.‘ Heute weiß ich, dass ich ein Bürger der Welt bin, mit einem eigenen Antlitz, einer Geschichte und einer Sprache. Das ist die Herausforderung für den Schriftsteller: Wie kann er das Eigene im globalen Dorf bewahren? Seit etwa zwanzig Jahren beteilige ich mich an der traditionellen Zeremonie, die wir Jahr für Jahr in meinem Heimatdorf abhalten, um den Göttern zu danken, die ihren heiligen Platz in der Huasteca haben. Und da bin ich dann der Lehrling und Helfershelfer der Alten, werde ganz und gar Teil der Gemeinde.

Seit dem Sturz des alten Regimes und dem Antritt von Präsident Vicente Fox vor fast zwei Jahren ist allerorten von einem „demokratisch erneuerten“ Land die Rede. Wie neu ist dieses Mexiko aus indigener Perspektive?

Es ist nicht einfach, einen Jahrhunderte währenden Prozess der Beherrschung und Diskriminierung umzukehren. Im Kampf zwischen Konservativen und Liberalen im 19. Jahrhundert existiert die Urbevölkerung gar nicht, dasselbe passiert bei der Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts. Und ein Wandel hängt heute nicht vom Präsidenten, sondern von der gesamten Gesellschaft ab. Aber ich glaube, dass es unter Fox Bemühungen und Signale gibt. Zum Beispiel unsere Abteilung hier: Wir unterstützen Projekte, die von den Dörfern, ihren Schülern und Lehrern, selbst konzipiert und verwaltet werden. Zwei, drei Jahrzehnte lang ging der Kampf ja nur um die Grundschulen. Heute geht es auch darum, dass indigene Sprachen an den Gymnasien gelehrt werden, dass die Universitäten multilinguale Fachbereiche eröffnen, dass es universitäre Lehrerausbildungen gibt. Und zweisprachige Bildung wurde lange Zeit nur als Angebot für die Indios verstanden – und nicht, wie heute vorgeschlagen wird, als interkulturelle Erneuerung für das gesamte Land. Der größte Widerstand dagegen kommt nicht vom Präsidenten, sondern von den Parteien. Viele sind noch in Denkstrukturen des 19. Jahrhunderten verhaftet, und zwar in allen politischen Lagern.

Einschließlich der Linken?

Durchaus. Die Parteilinke hat einen sehr ideologischen Diskurs, der die Fähigkeiten indigener Völker noch gar nicht verinnerlicht hat. Nehmen wir die Hauptstadt: Dort regiert die Linke und die hat kein Bewusstsein für kulturelle Diversität. Vielleicht ein bisschen für Sozialpolitik, aber in der Kulturpolitik handelt sie, als gäbe es die Indigenen gar nicht. Im neu gegründeten Kultursenat gibt es keinen einzigen Zuständigen für indigene Kultur. Und Forderungen nach linguistischen Rechte wird als etwas Indiospezifisches gesehen und nicht als Vorstufe zu einer multikulturellen Gesellschaft.

Sie leben seit 25 Jahren in dieser Stadt, die viele für ziemlich monströs halten …

… und mein größter Traum ist heute, in mein Dorf zurückzukehren. Ich bin nicht mehr derselbe wie früher. Die Stadt ist noch immer meine Herberge, mein Operationszentrum. Aber ich fühle mich nicht wie jemand aus der Stadt. Lomas de Dorado ist viel stärker in mir, und ich bin in ihm, wir durchdringen uns gegenseitig. Da läuft man auf den Hügel und kann das ganze Dorf überschauen. Aber ich will hier erst noch Englisch lernen. Und später dann noch Otomí.

Im Rahmen des Kulturfestivals „MEXartes-berlin.de“ wird Natalio Hernández am 31.10. um 18 Uhr im Berliner Haus der Kulturen der Welt lesen und am 2.11. an einem Symposium über „Indigene Literaturen und kulturelle Vielfalt“ teilnehmen.